der Naturwissenschaften
und der Technik
Walter Schottky – Atomtheoretiker und Elektrotechniker
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Reinhard W. Serchinger |
Einleitung
Von der experimentellen Entdeckung der von J. C. Maxwell theoretisch vorhergesagten elektromagnetischen Wellen durch H. Hertz 1887/88 bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 und der sogleich folgenden Vertreibung eines großen Teils der deutschen Intelligenz aus "rassischen" Gründen war Deutschland in der physikalischen Forschung führend in der Welt. Dieser Ruf gründete sich im wesentlichen auf die an deutschen Universitäten von deutschen, aber auch ausländischen Wissenschaftlern geleisteten Forschungsarbeiten. Als Indiz dafür mag gelten, daß zwischen 1901 (Verleihung des ersten Physik-Nobelpreises an W. C. Röntgen) und 1933 einschließlich in Deutschland tätige Forscher 12 der 39 Nobelpreisträger im Fach Physik stellten.
Ein Charakteristikum der modernen industriellen Welt ist die Erarbeitung wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht nur an Universitäten und staatlichen Forschungsanstalten und -instituten, sondern auch in industriellen Firmen, meistens Großunternehmen. Unter den bedeutenden industriellen Unternehmen in Deutschland findet sich eine ansehnliche Anzahl von Firmen, die Erkenntnisse der physikalischen und chemischen Forschung nutzten und in marktfähige Produkte umsetzten. Solche Großunternehmen wie Siemens im Bereich der Elektrotechnik oder die chemischen Firmen wie Höchst, BASF, Farbwerke Bayer usw. gingen in den letzten 20 Jahren des 19. Jahrhunderts dazu über, wissenschaftliche Forschung nicht mehr nur den Universitäten zu überlassen, sondern in den Unternehmen selbst zu organisieren. Mit dem Wechsel vom Erfinder-Betrieb zum industriellen Großbetrieb etablierten sich hierarchische Strukturen auch in der innerbetrieblichen Forschung, so wie dies vorher in Einkauf, Produktion und Vertrieb geschehen war. Während bei den chemischen Großfirmen naturgemäß Chemiker erst die Forschung und bald auch die Leitung der Unternehmen dominierten, übernahmen in den elektrotechnischen Firmen Physiker und Ingenieure die Forschungsaufgaben und gelangten z. T. ebenfalls in Führungspositionen.
Auch in der industriellen Forschung gab und gibt es hervorragende Forscher und wissenschaftliche Spitzenleistungen. Der theoretische Physiker Walter Hans Schottky (1886-1976), unter den Nicht-Nobelpreisträgern neben Arnold Sommerfeld wohl der herausragendste deutsche Physiker des 20. Jahrhunderts und in seiner Bedeutung einigen Nobelpreisträgern ebenbürtig, verbrachte den größten Teil seines Berufslebens bei der Firma Siemens und nicht im Hochschulbereich. Die Sonderstellung, die er unter den deutschen Physikern einnahm, ergab sich nicht aus seiner Berufstätigkeit in der Industrie an sich (1916-1919 und ab 1927). Seine Industrietätigkeit war zwar unter den Planck-Schülern singulär, nicht jedoch im Deutschland der zweiten Hälfte der 1910er Jahre, in dem sich das Berufsbild des Industriephysikers bereits herausgebildet hatte. Seine Ausnahmestellung resultierte vielmehr aus seiner Persönlichkeitsstruktur, die stark von der eines "üblichen" industriell tätigen Physikers (aber auch von derjenigen der Fachkollegen an den Universitäten!) abwich. Albert Einstein schrieb 1926 in einer Beurteilung Schottkys für die Universität Rostock:
»Herrn Schottky halte ich für einen sehr originellen und begabten Gelehrten. Ich kann schwer begreifen, warum man ihm nicht das Ordinariat gibt, denn er ist keineswegs nur Theoretiker, seine erfolgreiche Tätigkeit bei Siemens beweist schon dass er sich auch aufs Experimentelle versteht. [...] Herr Schottky widmet einen grossen Teil seiner Kraft prinzipiellen grossen Problemen, und er vermeidet es billige Lorbeeren zu pflücken, die am Wege liegen. Diese Einstellung verdient geschätzt zu werden, denn sie ist keineswegs häufig.«
Die ihm von Einstein attestierte Einstellung zur wissenschaftlichen Forschung kennzeichnete Schottky sein ganzes Leben lang, und zwar unabhängig davon, ob er bei Siemens oder an einer Universität tätig war. Bei der Lösung technischer Probleme ging Schottky ebenfalls den Weg der Aufklärung der tief liegenden, prinzipiellen Fragen. Außergewöhnlich war auch die enorme Breite seiner physikalischen und physikalisch-chemischen Interessen. Seine großen Verdienste für die Firma und sein ungeheurer Fleiß, der neben der Arbeit an den "prinzipiellen grossen Problemen" die Erledigung der kurzfristigen Firmenaufgaben sicherstellte, ermöglichten ihm auch bei Siemens die gewünschte Freiheit der Themenwahl.
Keineswegs war es so, daß es ihm, dem von Haus aus theoretischen Physiker, an Talent für eine Tätigkeit als Elektroingenieur gemangelt hätte. Seine zahlreichen Patente, technischen Vorschläge und Gutachten in Patentangelegenheiten beweisen dies. 1916 erfand er die später als Tetrode bezeichnete "Schutznetz"-Röhre, wie er sie nannte, die einen der grundlegendsten und bedeutendsten Fortschritte in der Verstärkerröhrenentwicklung darstellt. Für die Halbleitertechnik legte er 1939 mit seiner "Halbleitertheorie der Sperrschicht- und Spitzengleichrichter" eine erste theoretische Grundlage. Er selbst sah sich denn auch als "Atomtheoretiker" und "Elektrotechniker". Jedoch war seine extrem introvertierte und gründliche Art des Forschens, bei der jeder am Wegesrand liegende Stein von allen Seiten einer eingehenden Betrachtung unterzogen wurde, sowohl das Geheimnis seiner wissenschaftlichen und technischen Erfolge als auch die Quelle von Problemen seiner Kollegen und der Fach-welt mit ihm. Sein tiefes Eindringen in die Fragestellungen, das Beginnen bei Adam und Eva und die darauf folgende Schaffung einer eigenen Terminologie, die von der in der Elektrotechnik üblichen völlig abwich, machten es nicht nur seinen aus dem Ingenieurbereich kommenden Kollegen außerhalb und innerhalb der Firma sehr schwer, ihn zu verstehen. Ein Physiker, der in den 1950er Jahren zu Siemens kam und später zum Chefberater der Firma avancierte, meinte in Erinnerung an Schottkys Vorträge, daß er in der Firma als "verdienter, aber unverständlicher Mann" gesehen wurde. Daher bedurfte Schottky zahlreicher "Übersetzer", um in der Technik wirksam werden zu können.
In "Syntony and Spark", 1976 erschienen, führte Hugh G. J. Aitken das Konzept des "Übersetzers" in die Technikgeschichte ein. Der "Übersetzer" transferiert Informationen von einem "System" in ein anderes (z. B. von der Wissenschaft in die Technik oder von der Technik in den Bereich des Wirtschaftslebens), wobei das übermittelte Wissen interpretiert und in kreativer Weise angepaßt wird. Die Verwendung des Begriffs "Übersetzer" in diesem Sinne ist allerdings rund vier Jahrzehnte älter als das zitierte Werk Aitkens. Sie stammt ursprünglich von Eberhard Spenke, der 1929 bei seiner Bewerbung bei Siemens an Schottky verwiesen worden war und den die Firma auf Schottkys Geheiß dann auch eingestellt hatte. Schottkys Schwerverständlichkeit konnte im Prinzip überwunden werden, da er bei Nachfragen durchaus bereit war, einen anderen in seine Gedankenwelt einzuführen. Dies bedurfte jedoch einer beträchtlichen Anstrengung seitens dessen, der von Schottky profitieren wollte. Spenke war bei Siemens damals der einzige, der sich beharrlich über lange Zeit hinweg diese Mühe machte, und er prägte den Begriff "Übersetzer" für sich selbst aus seiner Erfahrung mit Schottky heraus. In der Tat wurde Spenke denn auch der Übersetzer für Schottkys Arbeiten auf dem Gebiet der Halbleiterphysik, nicht nur für die Siemensianer, sondern für die gesamte Gemeinschaft der Festkörper-Physiker im deutschen Sprachraum.
Für die vorliegende Arbeit ergab sich der primär biographische Ansatz aus der Quellenlage. Nachdem die traditionelle Wissenschaftler-Biographie seit den 1970er Jahren als ein eher unwissenschaftliches Genre zur Heroisierung von Wissenschaftlern in Verruf geraten war, hat der biographische Ansatz seit den 1990er Jahren eine Neubelebung erfahren und inzwischen wieder eine wichtige Rolle in der Wissenschaftsgeschichte eingenommen. Dabei wurde eine Vielzahl von methodischen Ansätzen entwickelt, weil unterschiedliche Typen von Wissenschaftlern auch ein unterschiedliches Herangehen erfordern. Ein möglicher Ansatz ist die Biographie der bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen einer herausragenden Wissenschaftler-Persönlichkeit, ein weiterer der "große Wissenschaftler" in seiner Einbettung in oder Einflußnahme auf die politische Entwicklung. Ferner kann ein bedeutender Wissenschaftler bei seiner Teilnahme an wissenschaftlichen oder technischen Großprojekten oder in seiner Rolle als Wissenschaftsorganisator betrachtet werden. Schließlich kann über die Biographie sowohl herausragender als auch weniger bedeutender Wissenschaftler ein Zugang zum Wissenschaftsleben eines Zeitalters gewonnen werden – ein Ansatz, der sich in den 1990er Jahren etabliert hat. Er wird hier in der Variante angewandt, über Schottky einen Einblick in die Forschung und Entwicklung im Hause Siemens zu gewinnen. Ferner ist der "Beitrag der psycho-historischen Methode zur 'neuen historischen Biographie'" zu berücksichtigen, der in der Einsicht besteht, daß kein Historiker eine Biographie schreiben könne, ohne sich psychologischer Argumente und Überlegungen zu bedienen. Dies gilt umso mehr für Schottky, bei dem es sich weniger um einen "heroischen" Erfinder als vielmehr um einen neurotischen handelte! Welchen Stellenwert das biographische Genre innerhalb der Wissenschaftsgeschichte inzwischen wieder eingenommen hat, zeigt die Tatsache, daß die amerikanische "History of Science Society" ihren "Pfizer Award" in den 1980er und 1990er Jahren häufig für Biographien verlieh.
Die vorliegende Arbeit schildert Walter Schottkys Leben, seinen wissenschaftlichen Werdegang und seinen Weg von der Entwicklung der zylindrischen Raumladegitterröhre ("Spannungsnetz", Schottky 1915) und der später als Tetrode bezeichneten Schirmgitterröhre ("Schutznetz", Schottky 1916) über die Thermodynamik zur Festkörperphysik und zur Enträtselung der Gleichrichtung in Halbleiter-Metall-Kontakten (Schottky 1939), welche seit 1874 auf sich hatte warten lassen. Sie beschränkt sich projektgemäß – Wechselwirkung zwischen Naturwissenschaft und Technik – auf den Zeitraum bis zur "Vereinfachten und erweiterten Theorie der Randschichtgleichrichter" von 1941, da ein Einfluß von Schottkys späteren Arbeiten auf die technische Entwicklung nicht erkennbar ist. Allerdings wird die direkte Umsetzung von Schottkys Halbleiter-Gleichrichter-Theorie in die Praxis durch H. J. Welker ab 1941 und E. Spenke und sein Team nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Schlußkapitel kurz gewürdigt. Die Leistungen H. J. Welkers, E. Spenkes und zweier weiterer deutscher Halbleiterpioniere, K. Seiler und H. Mataré, die ebenfalls auf den Arbeiten Schottkys aufbauten, sind von K. C. Handel in "Anfänge der Halbleiterforschung und -entwicklung. Dargestellt an den Biographien von vier deutschen Halbleiterpionieren" ausführlich behandelt worden.
Eine Biographie Walter Schottkys, die diesen Namen verdient, liegt bisher nicht vor. Der 2007 im Band 23 der Neuen Deutschen Biographie erschienene Artikel über Walter Schottky von W. Mathis bezeichnet mit seinen z. T. grotesken Fehlern einen Tiefpunkt der bisher veröffentlichten Schottky-Lebensbilder.
Diese Lücke soll mit der vorliegenden Arbeit wenigstens für den betrachteten Zeitraum (bis 1941/42) geschlossen werden. Die Schwerpunkte der Arbeit liegen auf Schottkys drei wesentlichen Tätigkeitsfeldern vor Ende des Zweiten Weltkriegs: der Elektronen-Röhren- und Verstärker-Entwicklung im Ersten Weltkrieg, der Thermodynamik (1920-1927) und der Physik der festen Körper (ab 1927). Da es sich im wesentlichen um eine physikhistorische Arbeit handelt, wurde die physikalische Ideengeschichte entsprechend berücksichtigt. Die anderen für die Entwicklung maßgeblichen wirtschafts- und firmengeschichtlichen, aber auch psychologischen Faktoren wurden dabei keineswegs vernachlässigt. Zur Geschichte der Firma Siemens liegt eine Reihe von Arbeiten mit unterschiedlichen Ansätzen vor. Mit der "Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847-1914" beschäftigte sich J. Kocka, der dabei auch auf die Firmengeschichte und die sich wandelnde Struktur des Unternehmens einging. "Die Herausbildung des Industriephysikers im kapitalistischen Deutschland, dargestellt am Beispiel des Siemens- und des Zeiss-Konzerns" untersuchte H. Schultrich, wobei sie den Zeitraum bis 1930 betrachtete. Als eigentliche Firmengeschichte ist an erster Stelle "Der Weg der Elektrotechnik. Geschichte des Hauses Siemens. Band I: Die Zeit der freien Unternehmung 1847-1910. Band II: Das Zeitalter der Weltkriege 1910-1945." von G. Siemens zu nennen. Dieses sehr lebendig geschriebene und gut lesbare Werk schildert auch die Versäumnisse der Firma ohne Beschönigung, enthält aber leider keine Quellenangaben. "Weg und Wirken der Siemens-Werke im Fortschritt der Elektrotechnik 1847-1980" stellten S. von Weiher und H. Goetzeler unkritisch, dafür aber mit Quellenangaben dar. Das "Abenteuer Elektrotechnik. Siemens und die Entwicklung der Elektrotechnik seit 1945" beschrieb B. Plettner, vor seinem Ruhestand zunächst Vorsitzender des Vorstandes und dann Aufsichtsratsvorsitzender der Siemens AG. Dieses Buch basiert im wesentlichen auf eigenen Erinnerungen Plettners und den Rückblicken älterer leitender Mitarbeiter des Hauses, die es auf eine aus den 1970er Jahren stammende Anregung zweier Vorstandsmitglieder hin unternommen hatten, "Unterlagen zu sammeln und nach ihrem Übertritt in den Ruhestand den Ablauf der technischen Entwicklung auf den von ihnen betreuten Arbeitsfeldern aus dem lebendigen Erleben heraus niederzuschreiben". Ausweislich der Anmerkungen stützt sich leider nur das erste Kapitel ("Die Entwicklung der Siemens AG und ihrer Arbeitsgebiete nach dem Zweiten Weltkrieg") zusätzlich auf Siemens-Archiv-Akten. Im Gegensatz zu den amerikanischen Arbeiten "Willis R. Whitney, General Electric, and the Origins of U.S. Industrial Research" von G. Wise und "The Making of American Industrial Research. Science and Business at GE and Bell, 1876-1926" von L. S. Reich gibt es trotz der genannten deutschen Veröffentlichungen keine firmenhistorische Studie zu Siemens, welche das Spannungsfeld von technischem Fortschritt, Unternehmensstrategie, Industrieforschung und einzelnen Forschern aufzeigt. Somit mußte für das vorliegende Projekt in äußerst umfangreichem Maße quellenmäßiges Neuland beschritten werden. Als Quellenbasis dienten der vom Enkel M. Schottky schon früher gespendete Hauptteil des Nachlasses Schottky (im Deutschen Museum), der von ihm speziell aus Anlaß dieser Arbeit ebenfalls gespendete Restnachlaß, die umfangreichen Aktenvermerke Schottkys aus dem Siemens-Archiv, weitere das Umfeld seiner Siemenstätigkeit beleuchtende Siemens-Archiv-Akten, die Personalakte Schottky im Universitätsarchiv Rostock und natürlich die Veröffentlichungen Walter Schottkys. Dazu kamen noch einige Quellen aus anderen Archiven. Insbesondere für die biographischen Teile der Arbeit wurde sehr viel noch nie verwendetes Quellenmaterial aus dem Nachlaß am Deutschen Museum (dieses war wenigstens schon gesichtet und grob katalogisiert), aus dem Restnachlaß (noch völlig unerschlossen) und z. T. auch aus dem Siemens-Archiv (stenographische Aufzeichnungen Schottkys, die erstmals transkribiert wurden) ausgewertet, was in geringerem Maße auch für die physikgeschichtlichen Abschnitte gilt. Zur Erhellung technik- und unternehmenshistorischer Aspekte wurde zwar erschlossenes, aber bisher nicht ausreichend beachtetes Material aus dem Siemens-Archiv durchgearbeitet.
[...]
Erstmals wird in der vorliegenden Arbeit versucht, einen doppelten Anspruch einzulösen. Zum einen wird mit einem biographischen Ansatz die Genese der wissenschaftlichen und technischen Arbeiten Walter Schottkys nachvollzogen und in den physikhistorischen Zusammenhang seiner Zeit gestellt. Zum anderen wird die besondere Rolle Walter Schottkys in der innerbetrieblichen Forschung im Hause Siemens deutlich. Seine schwierige und mehr einem Elfenbeinturm- denn einem Industrieforscher entsprechende Persönlichkeit ließen es der Firmenleitung als nicht ratsam erscheinen, ihm die Prokura zu übertragen oder ihn in die Führung der Firma aufsteigen zu lassen, was er auch gar nicht gewollt hätte, da er dann nicht mehr wissenschaftlich hätte tätig sein können. So stand Schottky im Gegensatz zu seinem älteren Bruder Hermann, der bei Krupp die Versuchsanstalt von 1928 bis 1938 als Gruppenvorstand leitete und dann Direktionsassistent wurde und Prokura erhielt. Daß Siemens dennoch an Schottky festhielt und ihm beispielsweise 1935 Gesamtbezüge (Gehalt plus Patentvergütungen) zahlte, welche das reguläre Gehalt des Reichskanzlers überstiegen (Schottky 41100,- RM, Reichskanzler 38705,- RM), ist nicht nur seinen außergewöhnlichen wissenschaftlichen und technischen Leistungen zu verdanken, sondern auch der besonderen Forschungsstrategie der Firma Siemens, die im Rahmen dieses Forschungsprojekts zum ersten Mal identifiziert und nachvollzogen werden konnte. In diese Forschungsstrategie, die auf vollkommene Beherrschung der wissenschaftlichen Grundlagen der erzeugten Produkte abzielte, und nur in diese, war die schwierige Persönlichkeit Walter Schottky einzubetten. Die Bedeutung Schottkys als Einzelforscher innerhalb der Firmenhierarchie wirft nicht nur ein Licht auf ihn selbst, sondern auch auf die Wesensart der Forschung bei Siemens. Das Beispiel Walter Schottky kann die Bedeutung des forschenden Individuums, das bis heute zweifellos ein wichtiges Element des firmeninternen Innovationsprozesses sein kann, im Gegensatz zur wissenschaftlichen Teamarbeit zeigen.
Aus der Schilderung von Schottkys Werdegang bei Siemens ergab sich eine Reihe von Fragestellungen, deren Beantwortung sich für das Verständnis seiner Rolle in der Firma als unentbehrlich erwies:
Wie sah Schottky selbst das Verhältnis von Wissenschaft zu Technik? Wie wurde dieser tiefschürfende Theoretiker, der "einen grossen Teil seiner Kraft prinzipiellen grossen Problemen" widmete, in die Firma Siemens nutzbringend eingebunden? Hätte er auch bei der Konkurrenz, der AEG, für ihn ähnlich günstige Arbeitsbedingungen vorgefunden? Hing die Einbindung eines solchen Physikers in einen Konzern von der jeweiligen Unternehmensstrategie ab, innerhalb derer Raum für einen "Elfenbeinturm mit Draht zur Wirklichkeit", wie man es nennen könnte, geschaffen werden mußte? Zahlte sich für Siemens dieser Forscher aus, dessen Werk zum Großteil wie das seines Vaters, des Mathematikprofessors Friedrich Schottky, "rein aus der Konsequenz der eigenen Fragestellung" erwuchs? Wenn ja, wie band die Firma einen solchen Forscher, der sich aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur nicht zum Aufstieg in die Firmenleitung eignete, an sich, wo doch das Sozialprestige von Hochschulforschern bedeutend höher war? Kann am Beispiel Schottkys die Trennlinie der Firma Siemens zwischen offener Wissenschaft und Firmengeheimnis ausgemacht werden? Gab es Konflikte darum? Wie stellte sich der Austausch von Erkenntnissen zwischen dem Siemens-Forscher Schottky und den Universitäten dar? Wenn Schottky so unverständlichtheoretisch war, wie kam dann eine Übersetzung seiner Vorstellungen für den Kreis der Ingenieure und Techniker zustande? Und wie gelang die Umsetzung seiner Ideen in technische Produkte? Mit welchen Schwierigkeiten hatte man dabei zu kämpfen? Wie wurde das Spannungsfeld zwischen Grundlagenforschung und Umsetzung in technische Produkte bei Siemens verstanden? Anders als bei der AEG? Und wie wurden die firmeneigenen Forscher und insbesondere der introvertierte Theoretiker Schottky von der Unternehmensführung in diesem Spannungsfeld gesehen? Wie wirkten sich die durch die "Meute der sogenannten Kaufleute" im Gefolge der Weltwirtschaftskrise verhängten Sparmaßnahmen auf die Grundlagenforschung bei Siemens im allgemeinen und auf Schottkys Arbeit im besonderen aus? Wandelte sich die Einstellung der Firma zur Figur der herausragenden Forscherpersönlichkeit mit der Zeit? Wenn ja, was waren die Konsequenzen?
Am Beispiel Schottkys und seiner Arbeiten wird wieder einmal deutlich, daß es keine monokausalen Erklärungen für das Entstehen wissenschaftlicher Theorien, Erfindungen oder technischer Produkte gibt: Erst die Betrachtung des komplexen Wechselspiels zwischen Erbanlagen, der im Zusammenwirken von Lebenserfahrung und Erbanlagen entstandenen Persönlichkeitsstruktur, zeitgenössischen geistigen und gesellschaftlichen Strömungen, Entwicklungen innerhalb der Physik und der Wissenschaftlergemeinde, wissenschaftlichen Begegnungen und Anregungen, dem jeweiligen Stand der Technik, Markt-faktoren, dem Patentrecht und Unternehmensstrategien läßt uns ihn, seine Leistungen und die durch seine Ideen in Gang gesetzten technischen Entwicklungen in ihrem ganzen Kontext verstehen. Jeder wie auch immer geartete "Einzelaspekt-Ansatz" muß daher notwendigerweise zu einer verzerrten Darstellung führen, die sich nur durch einen "holistischen" Ansatz vermeiden läßt, welcher alle in Frage kommenden Einzelaspekte zu einem organischen Ganzen zusammenfügt. Schottkys Lebensweg ist ein gutes Beispiel dafür, daß die individuelle Persönlichkeitsstruktur eines Forschers für den Gang der wissenschaftlichen Entwicklung durchaus entscheidender sein kann als das wissenschaftliche oder gesellschaftliche Umfeld. Psychologische Aspekte wurden daher als wesentlich in die Untersuchung einbezogen.
Wie aus der Komplexität der in dieser Arbeit geschilderten Zusammenhänge deutlich wird, müssen die in letzter Zeit so gern aufgestellten "Modelle" wissenschaftlicher und technischer Entwicklung notwendigerweise versagen. Das "Modell", daß die wesentlichen Forschungsergebnisse in der Großindustrie das Resultat von Teamarbeit seien, trifft auf Schottkys Arbeiten bei Siemens nicht zu. Die Umsetzung von Schottkys Theorie der Halbleiter-Gleichrichter in die Praxis und in neue Siemens-Produkte hingegen erfolgte durch ein Team, das aber wiederum von einer als Forschungsorganisator herausragenden Persönlichkeit geleitet wurde: E. Spenke. Heute arbeitet Siemens mit Teams ohne herausragende Forscherpersönlichkeiten. Auch waren die Forschungsstrategien der beiden Firmen Siemens und AEG grundsätzlich verschieden. Es gibt also kein allgemeingültiges "Modell" dafür, wie Firmenforschung stattfand oder wie sie organisiert wurde. Zu den vielfältigen Problemen der Forschungsorganisation bei Du Pont schrieben D. A. Hounshell und J. Kenly Smith, Jr., in ihrem 1988 erschienenen Werk "Science and Corporate Strategy. Du Pont R&D, 1902-1980":
»In fact, over the course of this century, research managers and executives have faced these issues and had to resolve them not once and for all but for the time being, in the context of the state of science in the United States and Du Pont's own corporate strategy.«
In der Geschichte gibt es keine deterministischen Gesetze nach Art der klassischen Physik, sondern nur die Erkenntnis von Zusammenhängen und Abläufen in Einzelfällen (eben "case-law"), und diese Erkenntnis kann nur mutatis mutandis auf andere, ähnlich gelagerte Fälle übertragen werden. Allgemeingültige Aussagen lassen sich, wenn sie nicht trivial sein sollen, nur auf der Basis einer sehr großen Zahl von Einzelfallstudien unter genauer Angabe der Randbedingungen formulieren.
Die Geschichte des Lebens und Werks Walter Schottkys und der Umsetzung seiner Ideen soll hier als eine solche aus sich selbst heraus wichtige Einzelfallstudie dargeboten werden, welche auf der Basis reichen Quellenmaterials Einblicke in die Forschungsstrategie des Siemens-Konzerns, in die Einbindung der firmeneigenen Forscher in diese Strategie und in das Verhältnis des Konzerns zur firmenexternen wissenschaftlichen und technischen Entwicklung bietet.
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