der Naturwissenschaften
und der Technik
Ferdinand Braun (1850-1918)
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Florian Hars |
Einleitung
»Außerdem finde ich, daß die Anford[erun]gen enorm gestiegen sind; wer nicht mit Relativitätsprincip spielen, Sommerfeld'sche Abhandlungen zum Cafe lesen und Ähnliches selber machen kann, ist, wenn er Anfänger ist, verloren. Die Techniker aber wollen nur Geld verdienen – dann scheint es mir einfacher, dies direkt anzustreben.«
Diese Zeilen schrieb Ferdinand Braun 1912 an seinen Schüler und ehemaligen langjährigen Assistenten Jonathan Zenneck, der damals ordentlicher Professor für Physik an der Technischen Hochschule Danzig war. In dem zitierten Brief ging es um Brauns Sohn Konrad, der sich entschlossen hatte, eine kaufmännische Karriere einzuschlagen, was Braun wegen der sich abzeichnenden Veränderungen in der Physik durchaus nachvollziehen konnte.
Braun war zu diesem Zeitpunkt 62 Jahre alt und konnte auf eine erfolgreiche Karriere als Physiker zurückblicken, die ihm etliche Orden und gerade drei Jahre vorher auch den Nobelpreis für seine Verdienste um die drahtlose Telegrafie eingebracht hatte. Er saß in Straßburg auf einem der prestigeträchtigsten Lehrstühle für Experimentalphysik in einem immer noch sehr gut ausgestatteten Institut. Man konnte ihn mit Recht für einen der wichtigsten Vertreter seines Fachs halten. Dennoch sah er deutlich, dass die Physik anfing, sich zu verändern, dass das, was er sein Leben lang gemacht hatte, nicht das war, was in der Physik künftig zählen würde.
Dieser von Braun gesehene Umbruch dürfte eine der Ursachen dafür gewesen sein, dass er bereits kurz nach seinem Tod vergessen wurde. Dies könnte man als erstaunlich darstellen, wenn man bedenkt, dass einige auf ihn zurückgehende Entwicklungen unser Alltagsleben sehr stark prägen. Von diesem Erstaunen geht auch die einzige existierende Biographie über Braun aus, die 1965 von Friedrich Kurylo veröffentlicht worden ist. Kurylo betont die Bedeutung von Brauns Arbeiten für die moderne Technik und will dadurch die Vernachlässigung des großen Mannes Braun als einen zu korrigierenden Fehler darstellen. Anders als Kurylo möchte ich die Gründe für das schnelle Vergessen aber nicht einfach mit den Hinweis auf eine Braun später zugewachsene Bedeutung als Vorläufer der modernen Technik beiseite schieben. Vielmehr möchte ich zeigen, dass man aus Brauns Karriere und den Gründen für dieses Vergessen einiges über die Wissenschaft lernen kann, die Braun betrieben hat, wie auch über die Prozesse, die die Physik am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts umgestaltet haben.
Braun war ein Physiker der Wilhelminischen Zeit, und zwar zunächst einmal in einem ganz wörtlichen Sinn: die Zeit seiner professionellen Karriere deckte sich ziemlich genau mit der Existenz des deutschen Kaiserreichs. Aber auch in einem übertragenen Sinn war Ferdinand Braun ein Physiker der Wilhelminischen Zeit. In dieser Zeit hatte sich die Physik gerade als eine selbstbewusste Disziplin etablieren können. Die Physiker an den Universitäten besaßen eine geordnete Vorstellung von den Inhalten ihres Faches und konnten ihre Ansichten über die nötige Ausbildung des Nachwuchses und die Ausstattung der Institute gegenüber den Universitätsverwaltungen weitgehend durchsetzen. Die Physik war an allen Universitäten durch Ordinariate vertreten und überall wurden eigene Institutsgebäude errichtet, die explizit auf die Bedürfnisse der physikalischen Forschung zugeschnitten waren.
Die an diesen neuen Instituten betriebene Physik war Experimentalphysik, eine wie heute für das Selbstverständnis der Physik entscheidende theoretische Physik gab es noch nicht, zumal viele Bereiche, die heute als theoretische Physik gelten, damals noch wie in den Jahrhunderten davor zur angewandten Mathematik zählten. Stellen für theoretische Physik gab zunächst nur vereinzelt, und diese Stellen waren fast ausschließlich Extraordinariate. Dieses Bild änderte sich erst mit dem Aufkommen neuer, sehr viel stärker theoretisch ausgerichteter Forschungsprogramme in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich um die Relativitätstheorie und vor allem die sommerfeldsche Atomphysik bildeten.
Der Professionalisierungsschub der Physik zwischen 1850 und 1900 und die Systematisierung der Ausbildung seit der Mitte des Jahrhunderts beruhte vor allem auf der gestiegenen Bedeutung der Ausbildung von Gymnasiallehrern in der Folge der humboldtschen Bildungsreform. Daher war die Physik den Idealen des deutschen Bildungsbürgertums verp ichtet und berief sich auf die aus dieser Tradition kommende Wissenschaftsvorstellung. Danach war das Ziel von Forschung und Lehre nicht so sehr nützliches Wissen, das sogar verschmäht wurde, sondern Bildung, ein »Lernen als Vertiefung in verehrte Quellen, deren geistiger Gehalt dem Studenten eine unauslöschliche Erhebung verbürgt.« Dieses Ideal hatte letztlich die Funktion, das Verlangen des im Staatsdienst sozial aufgestiegenen Bürgertums zu erfüllen, »als eine Art Geistesadel anerkannt und aufgrund seiner Gelehrsamkeit über den sozialen Rang seiner Herkunft herausgehoben zu werden.« Es konnte für die Institutionalisierung der Physik genutzt werden, indem die Ausbildung der Lehrer nicht auf das für den Unterricht notwendige Faktenwissen und die didaktischen Methoden beschränkt wurde, sondern für alle Studenten aktive wissenschaftliche Arbeit vorsah.
Dem widersprach teilweise ein anderes Muster, mit dem die Physik gerechtfertigt wurde: Die Betonung der Nützlichkeit der Wissenschaft für die Technik und das allgemeine Wohl. Diese Behauptung war zwar für die Physik des neunzehnten Jahrhunderts, die lange Zeit die anwendungsfernste Naturwissenschaft war, recht weit hergeholt, für das Selbstverständnis der Physiker war die Identifikation von technischem, wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Fortschritt aber eine wichtige Ressource. Hinzu kam, dass die Technik, und vor allem die entstehenden technischen Hochschulen, ein neues mögliches Berufsfeld für Physiker bot. Eine enge Beziehung zur Technik stellte aber gleichzeitig eine Bedrohung des eigenen Status im Bildungsbürgertum dar, und die Beziehung zwischen Universitäten und technischen Hochschulen war die meiste Zeit nicht die beste.
Dieser Widerspruch spiegelte sich in verschiedenen Auseinandersetzungen, wenn es etwa um die Frage der Zulassungsvoraussetzungen zu den Universitäten und den akademischen Prüfungen ging oder um die Stellung der Realgymnasien und Oberrealschulen relativ zu den humanistischen Gymnasien. Ebenso zeigte er sich in dem Streit um die Rolle der Technik im Unterricht der Universitäten und dem Kampf um das Promotionsrecht der technischen Hochschulen. In der Dichotomie von reiner und angewandter Forschung wirkt er bis heute nach.
In seiner Studie über die Geschichte des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie, die etwa die gleiche Zeit wie diese Arbeit untersucht, beschreibt Jeffrey Johnson die Auseinandersetzung um die Beziehung zwischen der Technik und der akademischen Welt als eine um verschiedene Konzeptionen von Modernisierung der wissenschaftlichen Institutionen. Zentrales Merkmal der Modernisierung ist für ihn die Entstehung einer doppelten Konkurrenz an der vordersten Forschungsfront. Zum einen gibt es eine Konkurrenz innerhalb der als international begriffenen Wissenschaft um die Erzielung von wissenschaftlichen Erfolgen, die vorgeblich keine Rücksicht auf außerwissenschaftliche Erwägungen nimmt, zum anderen eine Konkurrenz um die besseren Institutionen, in der äußere Gefahren oder ein drohendes Zurückbleiben gegenüber dem Ausland benutzt werden, um die Regierungen und die nationale Industrie dazu zu bewegen, die Entwicklung der eigenen wissenschaftlichen Institutionen zu unterstützen. Ersteres führt zu einer Trennung der Interessen der Wissenschaft von denen des Laienpublikums, Letzteres zu einer Verbindung vor allem zur Industrie und Technik. Johnson unterscheidet drei Arten von Modernisierung, die auf die Anforderungen dieser gesteigerten Konkurrenz und die Divergenz der Interessen reagieren: eine revolutionäre, bei der die bestehenden Institutionen aufgehoben und durch neue ersetzt werden, eine integrative, bei der die bestehenden Institutionen sich verändern und den neuen Bedingungen anpassen und eine konservative, bei der die bestehenden Institutionen unverändert bleiben und neue Aufgaben an getrennte Institutionen delegiert werden. Im Deutschland des 19. Jahrhunderts war der konservative Typ bei weitem dominierend, und er prägte auch die Entstehung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Auch im Umfeld der Physik gab es diese Auseinandersetzung. Sie war die erste Wissenschaft, für die ein von den Universitäten getrenntes Institut geschaffen wurde, die Physikalisch-Technische Reichsanstalt in Charlottenburg.
Braun gehörte zu einer zweiten Generation von professionellen Physikern, die ihre Ausbildung schon innerhalb des nach der Jahrhundertmitte entwickelten Modells der Experimentalphysik erhalten hatten und die für die feste Etablierung dieses Modells auch an den Hochschulen sorgten, die diese Entwicklung noch nicht mitgemacht hatten. Während seines Studiums nahm er in Berlin an den letzten eineinhalb Semestern des Magnus'schen Praktikums teil, später orientierte er sich an Georg Quincke, der ein Schüler von Franz Ernst Neumann war und das Königsberger Ethos der Exaktheit vertrat. Dadurch kannte Braun aus direkter Erfahrung zwei der wichtigsten Strömungen, von denen die Reform der Physikausbildung im Rahmen der von David Cahan so genannten »institutionellen Revolution der Physik« in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geprägt war. Diese Erfahrung hat er später während seiner eigenen Tätigkeit produktiv umsetzen können. Die Stationen seiner Karriere waren genau die für die sich allmählich professionalisierende Physik in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts typischen: Die Arbeit als Gymnasiallehrer, die für die meisten Absolventen eines naturwissenschaftlichen Studiums die wichtigste berufliche Perspektive bot, dann die Universitätskarriere mit den üblichen Stufen außerordentlicher Professor für theoretische Physik und ordentlicher Professor für Experimentalphysik und dazwischen eine Periode an einer der polytechnischen Schulen, die sich zunehmend zu technischen Hochschulen entwickelten.
Dies war über weite Strecken eine Modellkarriere für die klassische Experimentalphysik, die fast schon idealtypisch zeigt, wie man sich den Weg eines Physikers vom Studium bis zu einem Ordinariat für Experimentalphysik vorstellte. Unter den Bedingungen der doppelten Konkurrenz konnte Braun aber in dieser Stellung nicht verharren und weiter das Gleiche machen, ohne dadurch zu stagnieren und sein wissenschaftliches Ansehen zu gefährden. In seinem ersten Ordinariat in Tübingen stellte sich dieses Problem nicht in voller Schärfe, weil er dort zunächst damit beschäftigt war, die in Tübingen noch nicht vollzogenen institutionellen Innovationen nachzuholen, die er von den früheren Stationen seiner Karriere her kannte. Aber schon dort kam es zu Kon ikten mit konservativen Strömungen in der Professorenschaft. In Straßburg, das eines der Modellinstitute für den vorangegangenen Umbruch gewesen war, wurde die Frage, in welche Richtung sich die Physik weiterentwickeln sollte, dann aber akut, und Braun ergriff entschieden Position im Sinn einer die Technik integrierenden Modernisierung. Die von Braun gewünschte Entwicklung trat aber nicht ein. Die Technik blieb von den Universitäten getrennt an den technischen Hochschulen, und der Schwerpunkt der universitären Physik verlagerte sich zu fundamentaleren, theoretischen Fragestellungen.
Diese Entwicklung ist mit Blick auf die Entstehung von Relativitätstheorie und Quantenmechanik schon oft und ausführlich untersucht worden. Brauns Biographie bietet eine dazu komplementäre Perspektive. Braun betrieb keine »alte« Art von Physik, die von der »modernen« Physik ersetzt wurde, sondern Braun steht für eine andere Idee von moderner Physik, die ihre Hochzeit in den letzten Jahren vor der Jahrhundertwende hatte und bald darauf von den Universitäten verdrängt wurde.
Es ist müßig, darüber zu spekulieren, welche von beiden Richtungen moderner war. Man könnte Braun mit seiner Betonung von Anwendung, Bedeutung für das tägliche Leben, Empirie und Anschaulichkeit in der Erklärung in die Nähe dessen stellen, was Herbert Mehrtens als die kleinsche kooperative Gegenmoderne bezeichnet, und tatsächlich waren Braun und Klein auch wissenschaftspolitische Weggefährten. Dagegen würde man dann die selbstbewusst abstrakt arbeitende eigentliche Moderne der letztlich dominierenden theoretischen Physik, die sich von der Bindung an überkommene wissenschaftliche Vorstellungen freigemacht hat, abgrenzen. Ebenso gut könnte man aber auch mit Johnson die Theoretiker als die Vertreter einer konservativen Modernisierung bezeichnen, die die überkommene Erhabenheit der universitären Wissenschaft gegenüber den materiellen Bedingungen ihrer Existenz verteidigten, und Braun und Klein als Erneuerer betrachten, die sich den Herausforderungen einer veränderten Welt stellten.
Dieser Doppelcharakter beider Arten von Modernisierung soll hier aber nicht mein Thema sein. Ich möchte vielmehr zeigen, dass die Entscheidung zwischen diesen beiden Strömungen nicht in dem größeren oder geringeren Wert, der größeren oder geringeren Modernität oder Wissenschaftlichkeit einer der beiden Richtungen begründet lag, sondern Ergebnis einer prinzipiell offenen Auseinandersetzung war.