der Naturwissenschaften
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Die Pathologie der Person
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Martin Lindner |
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit schlägt eine Rekonstruktion und Interpretation der Theorien von Friedrich Kraus (1858-1936) vor und setzt sie in Beziehung zu den wissenschaftlichen und philosophischen Kontexten der Zeit. Kraus, der bisher kaum in seiner historischen Bedeutung gewürdigt wurde, kann als eine der originellsten Figuren der Berliner Medizingeschichte des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts gesehen werden. Die Ergebnisse der Arbeit sollen hier zusammenfassend kurz dargestellt werden.
Der einleitende erste Teil skizziert die Biographie Kraus', der, nach seiner Studienzeit in Prag und seiner Tätigkeit in Wien und Graz, als Professor für Innere Medizin die II. Medizinische Klinik der Berliner Charité von 1902 bis 1927 leitete. Da ein Nachlaß fehlt, ist ein Bild seiner Persönlichkeit nur aus den Beschreibungen seiner zahlreichen Schüler (u. a. Theodor Brugsch, Gustav von Bergmann) erschließbar, bezüglich hervorstechender Charakteristika aber durchaus kohärent. Kraus prägte das wissenschaftliche und intellektuelle Milieu seiner Klinik, die zu einem internationalen Anziehungspunkt wurde. Sein Charisma und seine Fähigkeit zu vernetzendem, assoziativem Denken ermöglichten ein Klima der Modernität und Interdisziplinarität, das – etwa mit der Etablierung der Hämatologie als Labordisziplin, der Einführung der Elektrokardiographie als klinische Methode oder der Erprobung der Wassermann-Reaktion für die Syphilisdiagnostik – klinische wie Grundlagenforschung förderte. Der Vorsitz, den Friedrich Kraus von 1927 bis 1931 in der »Gesellschaft für empirische Philosophie« – dem Pendant zum »Verein Ernst Mach« in Wien – innehatte, steht vielleicht mehr als alles andere für sein Bemühen um und seine Teilhabe an einer wissenschaftlichen Kommunikation, die der Tradition der empiristischen Universalwissenschaft verpflichtet war. Die Vorträge der Gesellschaft im Hörsaal der II. Medizinischen Klinik boten ein Forum für die wissenschaftliche und philosophische Elite der Zeit.
Dieses Bemühen um Synthese findet sich in den Texten von Friedrich Kraus wieder, die im zweiten Teil interpretiert werden. Seine Grundfrage ist die nach dem Organismus als ganzem, als integrierte Einheit. Jenseits – oder auch diesseits einer atomisierenden Analyse, wie sie z. B. die Zelltheorie des 19. Jahrhunderts leisten konnte, will Kraus die Zusammenhänge und Interaktionen im Organismus in den Vordergrund stellen. Ausgehend von einem physiologischen Ansatz entwickelt er in seiner ersten großen Veröffentlichung, der »Ermüdung als ein Mass der Constitution« von 1897, einen funktionalen Konstitutionsbegriff, der die Interdependenz und Verzahnung der organischen Teilsysteme thematisiert und somit ein Modell für den Organismus als Einheit liefert. Für dieses Funktionsgefüge, den Zusammenhang im Organismus, arbeitet Kraus später seinen Begriff der Person aus. Sein Hauptwerk: »Die allgemeine und spezielle Pathologie der Person«, erscheint 1919 und 1926 in zwei Bänden. Der erste Band, ein nur an wenigen Stellen stringent durchgeführter Text, setzt sich mit einer Vielzahl wissenschaftlicher und philosophischer Positionen im Hinblick auf die Einheit des individuellen Organismus auseinander. Kraus' Begriff der Person, den er hier in seinen verschiedenen Aspekten zu entfalten versucht, ist gleichzeitig theoretisches Modell für die reale, sinnvoll strukturierte organische Ganzheit sowie Ausdruck einer Orientierung auf eine »personale« Medizin. Der Personenbegriff bei Kraus bleibt jedoch voranthropologisch und hat keinen Anschluß an entsprechende klinisch-therapeutische Ansätze der anthropologischen Medizin. Die Kraussche Person ist nicht an ein menschliches Subjekt gebunden und muß vielmehr im Zusammenhang etwa des System- und des Gestaltbegriffs interpretiert werden, die beide zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bedeutung gewinnen.
Das Konzept der Person, wie es Kraus im ersten Band seines Hauptwerks entwickelt, ist also Bestandteil integrativer Bemühungen jenseits atomistischer Wissenschaft, die nach der Jahrhundertwende zum Tragen kommen. Die Spannung zwischen Analyse und Synthese spiegelt sich in seiner Bestimmung des Individuums als in »kollektiver wie distributiver Existenz« lebend. Die Einheit des Individuums ist keine bedingungslose Grundtatsache, das Individuum ist nicht »indivisibile«. Darin bleibt Kraus dem Atomismus des 19. Jahrhunderts treu. Entsprechend ist der Organismus in isolierbare und analysierbare – »distributive« – Teile gegliedert. Die organische Einheit – die »kollektive« Existenz – muß sich erst in einer funktionellen Synthese der Teile, in einem »travail d'unité«, vollziehen. Die Person ist damit keine statische, feste Größe, sondern das Ergebnis spezifischer Funktionsprozesse. Diese bezeichnet Kraus, unter Rückgriff auf die Philosophie von Richard Avenarius, als »Vitalreihen«. Die Vitalreihen bauen die interdependenten Körperfunktionen auf, mit denen der Organismus auf seine Umwelt sinnvoll reagiert und damit als Einheit erscheint. Er ist ein integriertes, zu seiner Umwelt aber offenes System, das sich in der Auseinandersetzung mit ihr formt und entwickelt.
Die Person muß somit in einem dynamischen Zusammenhang mit der Umwelt gesehen werden. Das In-der-Welt-sein des Individuums ist eine mit der Evolutionsbiologie unabweisbar gewordene Prämisse. Reaktion, Veränderung, Entwicklung sind vitale Erfordernisse des organischen Systems. Alle Leistungen des Organismus, auch die psychischen, gewinnen einen funktionellen, instrumentellen Charakter. Kraus versucht, die Dualität von Psyche und Körper, wie sie mit dem Begriff der Person relevant wird, zu umgehen und das Körperliche wie das Psychische als Glieder der Vitalreihen, als Elemente der einheitlichen Lebensvollzüge, zu begreifen. Das Psychische ist für ihn kein abgegrenzter Bereich, sondern eine – besonders flexible – Teilfunktion der organischen Einheit. Die Person ist »psychophysisch neutral«; Kraus ist und bleibt ein, wenn auch in einer gewissen Dialektik befangener Monist.
Die Untersuchung der Struktur des Organismus und des »personalen« Zusammenhangs ist eng verknüpft mit der Reflexion nicht nur auf die Eingebundenheit in die Umwelt, sondern auch auf die Veränderlichkeit des Organischen. Dessen Lebensgeschichte wird zu einem tragenden Motiv. Mit dem Konzept des »variablen physiologischen Zustands« will Kraus den Organismus als offenes, sich in stetem Wandel befindendes dynamisches System beschreiben. Im Gegensatz zu chemischen Systemen ist das Charakteristische des variablen physiologischen Zustands die andauernde Entwicklungs- und Veränderungsfähigkeit oberhalb eines absoluten thermodynamischen Gleichgewichts. Der Organismus befindet sich immer in einer momenthaften, labilen Balance, die einer ständigen Transformation unterliegt. Die Thematisierung der inneren Dynamik des Organismus, die Kraus hier vornimmt, wird weitergeführt in der Theorie der »Tiefenperson«.
Der zweite Band der »Pathologie der Person« von 1926, der Band über die »Tiefenperson«, darf aber trotzdem nicht als bloße Fortsetzung des ersten Teils betrachtet werden. Mit dem Begriff der Tiefenperson wird eine deutliche lebensphilosophische Wende vollzogen. Das führt zu dem, was hier als ?experimentelle Metaphysik? bezeichnet worden ist: Die Tiefenperson als »schlechthin vitale, das tiefste Wesen des Menschen bildende, spontan dranghaft schöpferische Instanz« ist Inbegriff einer schöpferischen Lebensdynamik des Organismus und – in Anlehnung an Henri Bergsons Lebensmetaphysik – Teil eines kosmologischen Lebensgeschehens. Auf der anderen Seite versucht Kraus, für seine Theorie der Tiefenperson oder »vegetativen Strömung« eine experimentelle Grundlage in der Kolloidchemie zu finden und damit das Dynamisch-Lebendige in seiner Materialität beschreibbar zu machen.
Die Kolloidchemie, die in ihrer begrifflichen Unterscheidung zwischen Kristalloiden und Kolloiden, gel-artigen Substanzen, auf Thomas Grahams Diffusionsversuche Mitte des 19. Jahrhunderts rekurrierte, entwickelte sich, als Teilbereich der Physikalischen Chemie, nach 1900 zu einem umfangreichen Forschungsgebiet. Die aus der Konvergenz kolloidchemischer Modelle und der ebenfalls im 19. Jahrhundert begrifflich verwurzelten, vitalistisch geprägten Protoplasmatheorie entstehende »Biokolloidologie« avancierte zu einem zentralen Paradigma, mit dem viele bis etwa 1930 die Eigenschaften des Lebendigen, wie Bewegung, Muskelkontraktion und Zellteilung, zu erklären hofften. Die kolloidchemische Analyse des Protoplasmas konzeptualisierte eine sub-zelluläre, aber supra-molekulare Dimension, diejenige der »lebendigen Materie«, und enthielt sowohl reduktionistische (physikalisch-chemische) wie vitalistische Elemente. Die – nicht ungeteilte – qualitative Interpretation der Kolloidchemie als Beschreibung eines spezifischen, nicht durch die Gesetze der klassischen Chemie ausreichend bestimmbaren Phänomenbereichs bot einen experimentellen Rahmen, innerhalb dessen auch die Spezifität des Organischen verstanden werden sollte. Die Biokolloidologie, die geeignet war, die lebensphilosophischen Motive der Nicht-Atomisierbarkeit, der Kontinuität und inneren Dynamik des Lebens zu absorbieren, kann insofern im Zusammenhang der holistischen Tendenzen der Zeit interpretiert werden. Friedrich Kraus machte ihre experimentellen Modelle für seine Theorie der Tiefenperson nutzbar und unterlegte sie seiner Beschreibung der vegetativen Strömung bzw. Protoplasmadynamik, d. h. der dynamischen Veränderungen protoplasmatischer (kolloidaler) Zellsubstanz aufgrund von Wasser- und Ionenströmen.
Mit der Tiefenperson expliziert Kraus einen ?vegetativen? Lebensbegriff. Dieses vegetative Leben spielt sich in den kolloidchemisch beschreibbaren Prozessen der organischen Substanz ab und bildet die Grundlage der Kohäsion des Organismus, seine einheitliche Systembedingung. Im Gegensatz dazu steht die »Kortikalperson«, Korrelat des Zentralnervensystems, zu der Kraus einen nicht mehr zustandegekommenen, dritten Band seiner »Pathologie der Person« entwerfen wollte und die – als »Sinnesreizanalysator« – diesem vegetativen Lebensprozeß aufgesetzt ist. Die Kortikalperson ist das intellektuelle, analytische Instrument des Organismus, mit dem er Ausschnitte von der Welt erfaßt; die Tiefenperson dagegen ist die Bedingung seiner Kontinuität, Einheit und Dynamik. Die Einzeldaten, die die Kortikalperson von der Welt liefert, werden durch die Tiefenperson zur fließenden Ganzheit verbunden. Damit steht Kraus in einem Gegensatz zur physiologischen Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts, die im wesentlichen das Zentralnervensystem – und nicht die chemisch-vegetativen Vorgänge – als Integrationsbedingung des organischen Systems betrachtet.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich das theoretische Denken von Friedrich Kraus – mehr unter einem systematischen als chronologischen Aspekt betrachtet – von der Frage nach der integrativen Funktionsstruktur des Organismus über die Reflexion auf die Eingebundenheit in die Umwelt und die Notwendigkeit der Veränderung zur Thematisierung seiner inneren Dynamik bewegt. Die Neubestimmung des Organismus bei Kraus ist damit durch zwei wesentliche, mit den Begriffen der Person und Tiefenperson etikettierbare Grundanliegen gekennzeichnet: Einerseits will Kraus mit seinem Konzept der Person das Ganze des Organismus beschreibbar machen. Andererseits gewinnt mit der Theorie der Tiefenperson die Hevorhebung des dynamisch-prozessualen Potentials des Lebendigen Bedeutung.
Mit den historischen Kontexten, zu denen Kraus' Theorien in Beziehung stehen, beschäftigt sich der dritte Teil. Sein Personenkonzept kann, wie bereits angedeutet, im Zusammenhang integrativer Tendenzen interpretiert werden, wie sie etwa im »kritischen Personalismus« William Sterns, in den Organismustheorien (z. B. bei Oscar Hertwig), der Gestalttheorie (bei Max Wertheimer, Wolfgang Köhler u. a.) oder der Systemtheorie Ludwig von Bertalanffys zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnen. Allen Modellen gemeinsam ist die Spannung zwischen den traditionellen, atomistisch-materialistischen Konzepten des 19. Jahrhunderts und dem Bedürfnis einer Resynthese im biologischen Denken.
Kraus' Theorie der Tiefenperson hängt dagegen eng mit den naturphilosophischen Neuformulierungen der Lebensphilosophie Henri Bergsons sowie dem Entstehen der Biokolloidologie zusammen. Bergson charakterisierte das Lebendige als teilweise offenes, dynamisches Geschehen. Damit gab er auch eine Antwort auf die ontologischen Probleme, die in der Kontroverse zwischen Wilhelm Roux und Hans Driesch, im Mechanismus-Vitalismus-Streit, zum Tragen kamen. Kraus verband mit der Tiefenperson die lebensphilosophischen Impulse in Richtung auf eine dynamische Prozeßontologie und die Konzepte der Kolloidchemie, wie sie z. B. von Wolfgang Ostwald und Herbert Freundlich entwickelt wurden. Damit bewegte er sich im konzeptuellen Rahmen der Biokolloidologie, die, wie beschrieben, im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts eines der attraktivsten Forschungsprogramme zur Erklärung lebendiger Phänomene darstellte. Ihre vitalistischen Komponenten werden vor allem im Begriff des Protoplasmas als generatives Prinzip deutlich, wie er nicht nur von Kraus, sondern z. B. auch von Jakob von Uexküll verwendet wurde.
Sowohl die integrativen als auch romantischen Tendenzen bei Kraus und anderen sind Aspekte holistischer Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Ganze bzw. das spezifisch Lebendige war Thema. Nach der Dekonstruktion des einheitlichen mechanischen Naturbilds, das die organischen Erscheinungen in einen universellen physikalischen Zusammenhang integriert hatte, mußten ontologische Fragen – was ist ein Organismus, was ist Leben? – unter veränderten philosophischen Bedingungen neu gestellt werden. Das Bewußtsein der Inadäquatheit der verfügbaren Erklärungsschemata führte innerhalb biologischer Forschung zur Entwicklung neuer und Wiederbelebung alter Metaphern, wie derjenigen der Gestalt, des Systems, des Ganzen oder auch der lebenden Materie, die Teilbereiche der Biologie, Medizin und Psychologie neu orientierten und als Strukturierungsversuche aufgefaßt werden können, die Phänomenalität des Lebendigen wissenschaftlich zu konzeptualisieren.
Einige der involvierten Paradigmen – betrachtet man die Wissenschaftsentwicklung retrospektiv – scheiterten, andere setzten sich fort. Entsprechend ergibt sich das Bild einer komplexen Struktur konvergenter, divergenter, transformierter und verlorengegangener Diskurse. Die voranthropologische Thematisierung der Person einerseits, der komplette Verlust der Biokolloidologie als zentrales Paradigma zur Erklärung des Lebens nach 1930 andererseits sind dabei die historischen Hauptursachen für die geringe Rezeption und Bekanntheit von Kraus' Theorien. Auf der anderen Seite sind die bei Kraus implizierten Kontexte teilweise konstitutiv gewesen, aus philosophischer Sicht für die Entstehung von Alfred North Whiteheads Prozeßmetaphysik, und auf wissenschaftlicher Seite für die Entwicklung der organismischen Systemtheorie und vielleicht auch der nicht-linearen Thermodynamik Ilya Prigogines.
Der abschließende vierte Teil der Arbeit, der die Grundmotive in Kraus' Texten zusammenfaßt und die bereits angedeutete Einordnung in den wissenschaftshistorischen Zusammenhang des 20. Jahrhunderts versucht, bietet als letztes Kapitel eine kurze Metareflexion auf ontologische und wissenschaftstheoretische Fragen, die eng mit den Transformationen der Biologie in der beschriebenen Periode verknüpft sind. So wird z. B. an der Kontroverse zwischen Mechanismus und Vitalismus bezüglich der organischen Entwicklungsfähigkeit klar, daß keine Einigkeit (mehr) in entscheidenden ontologischen Fragen bestand. Die Auseinandersetzung über die Spezifität bzw. Unspezifität der Lebensphänomene war dabei nicht nur von naturphilosophischer Bedeutung, sondern implizierte auch die Frage nach der möglichen Eigenständigkeit der Biologie als Wissenschaft mit einem genuinen Forschungsobjekt. Der universelle Diskurs, der vor dem Hintergrund des mechanischen Atomismus möglich gewesen war, relativierte sich, nicht zuletzt durch ein zunehmendes Bewußtsein der methodologischen und methodischen Gebundenheit wissenschaftlicher Aussagen. Friedrich Kraus' Begriff der kollektiv-distributiven Existenz des Individuums, gleichzeitig Ausdruck des Zerfalls alter Vorstellungen des Organismus und des Bemühens um die Reformulierung seiner Integration, ist auch eine Metapher der Spannung zwischen Auflösung und Einheit wissenschaftlicher und ontologischer Diskurse. Diese Spannung bleibt wirksam.