der Naturwissenschaften
und der Technik
Aufrecht im Sturm der Zeit
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Jost Lemmerich |
Einleitung
Die Allgemeinheit der Deutschen des 19. Jahrhunderts nahm von den wenigen Naturforschern und insbesondere von den Physikern in dieser Zeit und ihren Forschungsergebnissen kaum Notiz, es sei denn, es bestand ein deutlicher Bezug zum täglichen Leben. Justus Liebigs »Chemische Briefe« in der »Augsburger Allgemeinen Zeitung« und Alexander von Humboldt »Kosmos« stellten eine Ausnahme dar, denn die Autoren waren persönlich an der Publizität ihrer Forschungsergebnisse interessiert. Der »Göttingische gelehrte Anzeiger« meldet in seiner Ausgabe vom 9.8.1834, dass Professor Wilhelm Weber eine bisher in ihrer Art einzige Anlage zur telegraphischen Signalisierung errichtet hat. Die technische Ausgestaltung des elektrischen Telegrafen und der Kabelnetze wurde dann teils skeptisch abgelehnt, teils freudig begrüßt, aber dass der Fortschritt ein Ergebnis physikalischer Forschungen und Messungen war, das vergegenwärtigten sich nur wenige Menschen. Erst die Berufung von Hermann von Helmholtz auf den Lehrstuhl für Physik an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin 1871 und der Neubau eines großen physikalischen Instituts am Reichstagsufer fand mehr Beachtung in den Tageszeitungen. Ein weiterer Anlass zur Berichterstattung über die Aufgaben der physikalischen Forschung und über die Wissenschaftspolitik des Reiches war die Gründung einer Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. Man schrieb über die Debatten im Reichstag und erwog das Für und Wider. Als die Wissenschaftler in der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (PTR) ihre Arbeit aufnahmen, werden nur wenige Menschen gewußt haben, welche wirtschaftlich-wissenschaftlichen Probleme mit der Herstellung von Normalen für Meter, Kilogramm, Sekunde, Volt, Ampere, Ohm usw. verknüpft waren. Den gebildeten Kreisen war der Name des ersten Präsidenten der PTR in Berlin-Charlottenburg bekannt, denn Helmholtz verband in seinen Vorträgen und populären Schriften, z. B. »Über die Lehre von den Tonempfindungen«, die Geistes- mit den Naturwissenschaften. Seine weitwirkenden Arbeiten auf mathematischem und erkenntnistheoretischem Gebiet lagen außerhalb der Möglichkeit einer Popularisierung.
Anders war es bei Röntgens Entdeckung 1895. Über diese höchst geheimnisvollen Strahlen, die durch den menschlichen Körper hindurchgingen, erschienen zwar ausführliche Berichte, denn die Strahlen waren von medizinischer Bedeutung. Doch blieben die wissenschaftlichen Erkenntnisse weitgehend unerwähnt, wobei Röntgens ablehnende Haltung gegenüber der Presse eine Rolle spielte. Lange Zeit konnten die Physiker nicht die Frage beantworten, was diese »Neue Art« von Strahlen denn sei. Über die Entdeckung der Radioaktivität durch Becquerel und die anschließende Erforschung durch das Ehepaar Curie erschienen ebenfalls ausführliche Berichte in den Zeitungen. Aber viele Erfolge in anderen Gebieten der Physik fanden gar keine Beachtung.
Konflikte über die Erkenntnisse der Physiker mit staatlichen oder religiösen Autoritäten waren auch im 19. Jahrhundert nicht endgültig beigelegt, und neue Probleme führten wiederum zu Spannungen, die aber weniger auf erkenntnistheoretischem oder physikalischem Gebiet lagen. Die Auseinandersetzungen lagen im politischen Bereich. Sieben Göttinger Professoren protestierten 1837 gegen eine Verfassungsänderung durch den König von Hannover, Ernst August, die ihren Diensteid berührte. Ihr Protest bei dem Landesherrn führte zu ihrer Entlassung und zum Verweis des Landes. Eid und Eidestreue waren ethische Werte, sie standen hoch und so war die Tat der Sieben bei allem Mythos, der sie später verklärte, ein Zeichen einer neuen Haltung der Gelehrten gegenüber der Staatsgewalt.
Fast vierzig Jahre später, im November 1880, fühlten sich fünfundsiebzig Notabeln verpflichtet, unter ihnen Theodor von Mommsen und Rudolf von Virchow, eine Erklärung gegen den Antisemitismus an Bismarck zu schicken. Sie stellten fest:
»In unerwarteter und tief beschämender Weise wird jetzt an verschiedenen Orten, zumal den größten Städten des Reiches, der Rassenhaß und der Fanatismus des Mittelalters wieder ins Leben gerufen und gegen unsere jüdischen Mitbürger gerichtet. ?
Gebrochen wird die Vorschrift des Gesetzes wie die Vorschrift der Ehre, daß alle Deutschen in Rechten und Pflichten gleich sind. Die Durchführung dieser Gleichheit steht nicht allein bei den Tribunalen, sondern bei dem Gewissen jeden einzelnen Bürgers.«
Damals war Lise Meitner ein Jahr und Albert Einstein zwei Jahre alt, Max Born, James Franck wurden zwei Jahre später geboren, 1885 der dänische Physiker Niels Bohr.
Die gesamte Jugendzeit, das sind nahezu ein Viertel seines Lebens, lebte Franck in der Freien und Hansestadt Hamburg und, wiederum nahezu ein Viertel seines Lebens, in Berlin, wo er zum erfolgreichen Wissenschaftler wurde. Die ersten wissenschaftlichen Arbeiten konnte er in einer friedlichen Epoche durchführen. Nur Utopisten malten damals ein düsteres Bild von der Zerstörung der Menschheit und der Welt durch die naturwissenschaftliche Erkenntnis. Das »Säbelrasseln« des Kaisers Wilhelm II. wurde nicht ernst genommen. Der Erste Weltkrieg zeigte dann das erschreckende Ausmaß der Vernichtungskraft moderner Technologien, vor allem im Gaskrieg. Der Krieg offenbarte auch einen überbrodelnden Nationalismus, dem sich viele Wissenschaftler anschlossen. Das belastete nachhaltig die Gemeinschaft der Forschenden.
Franck erhielt Anfang der Zwanziger Jahre einen Ruf als Ordinarius nach Göttingen, wo er nicht nur seinen wissenschaftlichen Ruhm weiter mehrte, sondern auch zu einem bedeutenden akademischen Lehrer wurde. Die politischen Unruhen, der latente und offene Antisemitismus drangen anfangs nur schwach nach Göttingen. Durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933, durch den staatlich angeordneten Bruch der Gesetze und der Ehre gegenüber den Juden, erst in Deutschland und fünf Jahre später in weiten Teilen Europas, wurde das Leben der Juden zutiefst verändert und zerstört. Franck lehnte es 1933 ab, diesem Staat zu dienen und trat von seinem Lehramt zurück. Viele seiner Freunde konnten sich nur durch ihre eigene Initiative vor ihrer Vernichtung durch das menschenverachtende Regime der Nationalsozialisten retten, noch viel mehr wurden Opfer. Francks und ihre Töchter mit den Schwiegersöhnen emigrierten in die USA. Francks wissenschaftliche Forschungsrichtung änderte sich grundlegend.
Auch das Leben von Francks Freunden, die in Deutschland blieben, wie von Otto Hahn und Max von Laue wurde eingeschränkt, war gefährdet, denn sie standen in der Nachfolge der Männer der Erklärung von 1880. Aber, anders als im Kaiserreich, in der Diktatur mussten sie gegenwärtig sein, vernichtet zu werden, wenn sie es wagten, öffentlich Recht für die jüdischen Mitbürger und Verfolgten zu fordern.
Noch verband die meisten Physiker eine enge persönliche Freundschaft und nicht nur ihre Wissenschaft. Aber ein wissenschaftliches Ereignis zerriss, aus politischen Gründen, dieses Band. Es war das nicht vorhergesehene Resultat einer reinen Forschungsarbeit, die Entdeckung der Spaltung von Uranatomkernen durch Neutronenbeschuss. Die dabei freiwerdende große Energie zeigte die Möglichkeit, eine Atombombe zu bauen. Albert Einstein fühlte sich, angeregt von Leo Szilard und Eugen Wigner, zu verantwortungsbewusstem Handeln aufgerufen. Er wies den Präsidenten Roosevelt auf die Gefahr hin, dass in Deutschland möglicherweise an einer Atombombe gebaut würde. Die amerikanische Regierung beschloss, der Bedrohung durch den Bau eigener Atombomben entgegen zu treten. Franck wurde zur Mitarbeit aufgefordert. Als Deutschland kapitulierte, wandte er sich mit einigen Mitarbeitern gegen einen Einsatz der Atombombe. Die Zeit in der stillen Gelehrtenstube, im individuellen Laboratorium des 19. Jahrhunderts, war durch diese Ereignisse unwiederbringlich vorbei.
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