der Naturwissenschaften
und der Technik
Mathesis
Rüdiger Thiele (Hrsg.) |
In pluribus unum – Geleitwort
"Wir Deutschen feiern gern, vielleicht mehr als irgend ein anders Volk, gewisse Tage, die eine Zeitmaß-Beziehung haben auf uns teure Personen oder Begebenheiten, wie Geburtstage, Jubiläen und dgl. Der Meßkünstler, in dessen Augen Verschwommenheit und Willkürlichkeit im Gegensatz zu Schärfe und Festigkeit immer etwas Abstoßendes haben, findet einen kleinen Übelstand darin, daß der Grund, warum eben dieser Tag und nicht ein anderer zur Begehung der Feier bestimmt wird, mehr oder weniger von Willkürlichkeiten abhängt, von der Einrichtung unseres Kalenders, der Verteilung der Schaltjahre, von dem Bestehen des Dezimalsystems, also in letzter Instanz von dem Umstande, daß wir eben fünf Finger an jeder Hand haben." Mit diesen "trivialen Reflexionen" überraschte CARL FRIEDRICH GAUß am 7. Dezember 1853 ALEXANDER VON HUMBOLDT, um diesem mitzuteilen, daß HUMBOLDT mit seinem Alter nun in ein Gebiet übergehe, in das noch keine der Koryphäen der exakten Wissenschaften eingedrungen sei. Man mag geneigt sein, sich zu wundern, daß der Princeps mathematicorum seine Zeit an das Führen und Auswerten derartiger Zahlenregister verlor, aber wenn man einige Schritte zurücktritt, so erscheint auch in den Gaußschen Zahlenspielereien jener alte Grundsatz der rationalen Naturauffassung, daß die Welt nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet und damit unserem Verstand zugänglich sei, und daß dieses objektivierende Betrachten – auch bei Kleinigkeiten – die Grundlage unserer Naturwissenschaft ist. In diesem weiteren, gleichnishaften Sinn lassen sich GAUß' Worte auch an MATTHIAS SCHRAMM richten, und diese Metaphysik dürfte ihm auch gefallen, da ihm von Anbeginn daran gelegen hat, die Geschichte der Wissenschaften nicht lediglich als ein "lebendiges, Zusammenhang stiftendes Geschehen erkennbar" (M. SCHRAMM) zu machen, sondern daß er vor dem Hintergrund eines universellen Wissens auch mit außergewöhnlicher Klarheit die Fäden zwischen den auseinanderliegendsten Sachverhalten sicher zu knüpfen wußte und es mit beeindruckender Vollkommenheit tat, um das Puzzle der Wissenschaftsgeschichte rational zu einem sinnvollen Ganzen zu fügen. In einem solchen Zusammenhang bemerkte MATTHIAS SCHRAMM einmal, daß das, was Mathematik, was Naturwissenschaft im Laufe der Jahrtausende geschaffen haben in einem Maße gegenwärtig ist wie kaum ein anderes Element geschichtlicher Überlieferung, und er ergänzte an anderer Stelle: "Die Naturwissenschaft ist unser aller Schicksal geworden." Dabei betonte er, daß aber das, was wir für unsere originellsten Leistungen halten, nur durch einen an Geistesriesen, auf deren Schultern wir stehen, geschultem Verstand ermöglicht worden sei. Geschichte und Gegenwart sind ihm in eins verwoben. MATTHIAS SCHRAMM ist der erste Professor für Geschichte der Naturwissenschaften in Tübingen gewesen, aber man gerät mit einer solchen üblichen Stellenbeschreibung des Wissenschaftsbetriebs schnell in Schwierigkeiten, wenn man das Wirken dieses Universalgelehrten, der sowohl Mathematik und Naturwissenschaften, klassische Philologie als auch Orientalistik studiert hat, lediglich mittels Angabe von Spezialisierungsrichtungen zu erfassen meint. Seine Fähigkeiten und universellen Absichten haben sich beständig in fächerübergreifenden Arbeiten nieder geschlagen, was bereits in kurzer Blick auf seine dieser Festschrift beigegebene Publikationsliste eindrücklich belegt. MATTHIAS SCHRAMM ist 1928 in Paris als Sohn eines Künstlerehepaares geboren. Den Schulstoff eignete er sich später weitgehend autodidaktisch an, wobei er etwa die Geometrie in der griechischen Originalform der Euklidischen Elemente studierte. 1946 konnte er so extern in Kassel das humanistische Abitur ablegen, um in Marburg Physik und dann in Frankfurt/M. Mathematik und klassische Philologie zu studieren. In Frankfurt kam MATTHIAS SCHRAMM in die Vorlesungen von WILLY HARTNER, der ihn nachhaltig beeinflußte. Bei HARTNER promovierte SCHRAMM 1957 über die Bedeutung der Aristotelischen Kinematik für die Lösung derZenoschen Paradoxien. Bereits drei Jahre später habilitierte er sich auf einem sowohl zeitlich als auch sprachlich völlig verschiedenem Gebiet, indem er Ibn al-Haythams Weg zur Physik darstellte und dabei nachwies, daß schon sechshundert Jahre vor Galilei im arabischen Mittelalter eine experimentelle Naturwissenschaft bestand. Vor der Berufung nach Tübingen im Jahre 1966, die MATTHIAS SCHRAMM bis zur Emeritierung 1996 genau dreißig Jahre an die traditionsreiche Eberhard-Karls-Universität band, verbrachte ein Jahr in Oxford mit dem Studium arabischer Quellen. Seine herausragenden Leistungen haben MATTHIAS SCHRAMM weltweit Anerkennung verschafft; so wurde er 1966 korrespondierendes und 1971 ordentliches Mitglied der Intenationalen Akademie für die Geschichte der Naturwissenschaften in Paris. Ein Jahrzehnt, genauer von 1974 bis 1985, diente er dem Archive for History of Exact Science als einer der Editoren, und seit 1991 ist er Associate Editor der Historia mathematica. MATTHIAS SCHRAMMS Vorlesungen überdecken die Geschichte der Naturwissenschaften in bemerkenswerte Breite: vom alten China oder von der Antike über die Araber bis hin zur Zeit der Aufklärung und schließlich in die neueste Zeit. Das begleitende Schrammsche Seminar ist berühmt, und dieser Band enthält eine Arbeit von Teilnehmern des Seminars über diese außergewöhliche Lehrveranstaltung nebst einer Aufstellung der behandelten Themen. Dieser kurze Beitrag kann auch für den Anlaß stehen, dieses Buch herauszugeben: Es war der Wunsch, der in diesem Buch versammelten Autoren sowie weiterer Freunde und Kollegen, das Wirken MATTHIAS SCHRAMM zu ehren und ihm diese Festschrift als ein Zeichen des Dankes für das, was er uns allen gegeben hat, zu widmen. Zu danken ist Frau BRIGITTE SCHLAG, Karl-Sudhoff-Institut der Universität Leipzig, und Frau GÜNTHER, Rechenzentrum der Universität Leipzig, für die Textbearbeitung sowie Herrn Dr. GÜNTHER OESTMANN, Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, Mathematik und Technik der Universität Hamburg, für die Gestaltung des Umschlages. Ein weiterer Dank ist dem Verlag, und hier insbesondere Herrn MARTIN BARTH, für die angenehme Zusammenarbeit geschuldet.
MENSO FOLKERTS
WALTER HOERING
EBERHARD KOBLOCH
KARIN REICH
RÜDIGER THIELE