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Karl Culmann (1821-1881) und die graphische Statik

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 (1998) (1998)

Bertram Maurer
Karl Culmann (1821-1881) und die graphische Statik
Anhang mit umfangreichen Culmann-Texten
(Institut für Baustatik (Stuttgart): Berichte, Band 26)
550 Seiten, zahlr. Abb., Pb., Vergriffen.
ISBN 978-3-928186-41-4
(Dieser Titel ist vergriffen!)
Eine Biographie über einen Wegbereiter zur Verwissenschaftlichung des Ingenieurwesens und gleichzeitig eine Untersuchung über die Entstehung eines neuen Fachgebietes an den Technischen Hochschulen.

Einleitung

Ein wichtiger Motor für die technische und wissenschaftliche Entwicklung im 19. Jahrhundert war der Eisenbahnbau. Er stellte Mechaniker und Baumeister vor quantitativ und qualitativ neue Aufgaben. Die Anforderungen an den Bau von Eisenbahnlinien waren wesentlich höher als an den Straßenbau: Krümmung und Steigung der Strecken mußten innerhaib enger Grenzen bleiben, dadurch waren zahlreiche Damm- und Brückenbauten erforderlich. Hinzu kamen die großen Hallen, die für Bahnhöfe, Remisen und Ausbesserungswerke errichtet werden mußten. Noch größer war die Herausforderung des Maschnenbaus durch den Lokomotivenbau. Die gestiegenen Anforderungen beschleunigten den Aufbau der Polytechnika, den späteren Technischen Hochschulen, und förderten die Tendenz zur Verwissenschafliichung des Ingenieurwesens.

Sowohl der Maschinenbau als auch das Ingenieurwesen begannen um die Jahrhundertmitte als eigenständige wissenschaftliche Disziplinen Kontur zu gewinnen. Dabei diente zunächst das mathematisch-naturwissenschaftliche Methodenideal als Vorbild. Grashof, Reuleaux und Culmann waren wichtige Protagonisten dieser Richtung.

Die mathematischen Methoden hatten hierbei eine durchaus doppelte Aufgabe: Zum einen hatten die beteiligten Wissenschaftler hohe Erwartungen in das Leistungspotential der mathematischen Methoden, zum anderen sollte das mathematische Gerüst auch für den Nimbus der Wissenschaftlichkeit sorgen. Die Polytechnika bzw. Technischen Hochschulen standen im Wettbewerb mit den Universitäten und strebten die Gleichstellung mit ihnen an.

Ab den 1870er Jahren traten die spezifisch ingenieurwissenschaftlichen Methoden in den Vordergrund, die sich aus den Material- und Festigkeitsuntersuchungen in den Ingenieurlaboratorien entwickelt hatten. Zu den führenden Männern zählten hier Carl von Bach in Stuttgart und Johann Bauschinger in München Ende des Jahrhunderts hatte sich das Selbstbewußtsein der Ingenieurwissenschaftler durch die technischen Erfolge so gestärkt, daß an die Stelle der Imitation der Universitäten die Betonung der Eigenständigkeit trat.

Karl Culmann gehört zu den Ingenieurgestalten der frühen Phase, die von Eisenbahn- und Eisenbau geprägt waren, zudem kam er wie manch anderer Ingenieurwissenschaftler vom Eisenbahnbau. Als Begründer der Graphischen Statik hat er eine Diaziplin eingeführt, die höchste wissenschaftliche Ansprüche stellte und große praktische Erfolge aufwies. Sein Epoche machendes Werk, die »Graphische Statik« aus den Jahren 1864 bis 1866 bzw. die zweite Auflage des allgemeinen Teils aus dem Jahre 1875 trugen ihm den Ruf eines mathematisch geprägten Theoretikers ein.

Dieses Bild beschreibt aber nur einen Aspekt seines Wirkens. Die vorliegende Arbeit versucht ein differenzierteres Bild von Culmann und seiner Lebensleistung zu zeichnen. Sehr hilfreich waren dabei die zahlreichen Nachrufe, die nach Culmanns Tod Ende 1881 und Anfang 1882 erschienen. Sie charakterierten Culmann in vielen Facetten. Hervorzuheben sind dabei drei Broschüren aus dem Jahre 1882. Sie enthalten biographische Skizzen von Culmanns Leben und würdigen sein wissenschaftliches Werk. Wie es sich für einen Schweizer geziemt – Culmann nahm 1868 die Schweizer Staatebürgerschaft an – sind sie in den drei Schweizer Landessprachen verfaßt. Die deutsche und die französische Fassung stammen von Culmann-Schülern: die deutsche von Ludwig Tetmajer, der später einen Teil des Culmann-Lehrstuhls übernahm, und die französische von Jean Meyer, dem langjahrigen Präsidenten der »Gesellschaft der ehemaligen Polytechniker« (GEP); die italienische Version wurde von Antonio Favaro verfaßt. Die drei Autoren hatten langjährige persönliche Kontakte zu Culmann, ihre Schriften gehen weit über die üblichen Nekrologe hinaus und sind daher wichtige Quellen. Die drei Schriften haben unterschiedliche Schwerpunkte und ergänzen sich daher. Das Verzeichnis der Culmann-Werke von Tetmajer konnte ich nur um wenige Titel und einige Vorträge ergänzen, wobei auch mein Verzeichnis (Anhang D 3) unvollständig bleibt.

Leider sind die meisten privaten Culmann-Briefe verloren. Dagegen ist erfreulicherweise die Culmann-Akte bei der Obersten Baubehörde in München aus seiner Zeit bei der bayerischen Eisenbahn weitgehend erhalten, insbsondere befinden sich dort die Jahresberichte, die Culmann während seiner Dienstzeit verfassen mußte. Sie scheinen mir interessant und reizvoll genug, urn.sie im Anhang (A 2) abzudrucken. Auf Grund dieser Akten läßt sich seine Tätigkeit sehr genau rekenstruieren und Verbindungen zu seinen Arbeiten ziehen.

Die wissenschaftliche Karriere Culmanns begann mit einer Weltreise. Er bereiste Europa und Amerika, um seine technische Ausbildung abzurunden. Teile seines Reiseberichts wurden 1851 und 1852 in der »Allgemeinen Bauzeitung« abgedruckt und erregten in Fachkreisen vor allem durch die darin enthaltene Fachwerktheorie große Aufmerksamkeit.

In der wissenschaftshistorischen Sammlung der ETH-Bibliothek in Zürich befinden sich unter einer ganzen Reihe weiterer Manuskripte von Culmann auch die technischen Notizen (Anhang A 4), die Culmann auf seiner technischen Weltreise angefertigt hatte. Die beiden genannten Artikel sind Ausarbeitungen von Teilen dieser Notizen. Daneben existieren noch zwei weitere Bearbeitungen der Notizen, die »Technischen Reisebeschreibungen England« und »America«. Sie sind bislang unveröffentlicht und ebenfalls im Anhang (A.4.a und A.4.b) abgedruckt. Sie zeigen vor allem die weitgespannten Interessen Culmanns, der sich in seinen Notizen mit dem Maschinenbau ebenso intensiv befaße wie mit dem Brückenbau, mit dem Schwarzfahren ebenso wie mit der Sklaverei. Sie zeigen vor allem aber etwas von seiner Persönlichkeit, seiner Sehweise und seiner Art zu denken.

Die Fachwerktheorie in der »Allgemeinen Bauzeitung« war verantwortlich für seine Berufung an das Züricher Polytechnikum, dem er mehr als 25 Jahre, bis zu seinem Tod treu blieb. Zur einen Seite seiner Tätigkeit in Zürich gehörten die theoretischen Untersuchungen, die ihn zur graphischen Statik führten, den Großteil seiner Zeit nahm aber seine Lehrtätigkeit, die Betreuung seiner Studenten und die Anfertigung von Gutachten in Anspruch. Dieser Teil seiner Arbeit zeigt Culmann als einen sehr praxisnahen Mann. Auch hierzu bietet die ETH-Bibliothek reichhaltiges Quellenmaterial, vor allem Vorlesungsmitschriften und Zeichnungen von Culmann-Schülern, sowie eine Reihe gedruckter Gutachten.

Mit Culmann wird damit ein herausragender Ingenieur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgestellt, bei dem gerade das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis sichtbar wird und der die Verbindung zwischen Ingenieurwissenschaftlicher Entwicklung und dem Eisenbahnbau iilustriert. Es sei dahingestellt, inwieweit Culmann exemplarisch ist für die damalige lngenieurgeneration. Mit Culmanns Leben befaßt sich das 1. Kapitel meiner Arbeit. Zum wissenschaftlichen Hauptwerk von Culmann, der »Graphischen Statik«, gibt es seit 1989 von mathematikhistorischer Seite eine brillante Studie. Erhard Scholz hat die Rolle der Dualität für die graphische Statik in den verschiedenen Ausprägungen von Maxwell, Culmann und Cremona analysiert. Außerdem sind in den letzten Jahren einige Artikel zu Culmann und der graphischen Statik erschienen, vor allem in den Dresdener Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften des Jahres 1995 mit Artikeln von Kurrer, Kahlow und Benvenuto. 1996 fand in Genua ein Kongreß zum Thema statt, zu dem ein Tagungsband erscheinen soll. Zudem wird die graphische Statik in jeder Geschichte des Bauingenieurwesens oder der Baustatik behandelt. Ich nenne Benvenuto [1991], Charlton [1982] und Straub [1992].

Was für die Culmann-Biographie gilt, trifft auch für die Geschichte der graphischen Methoden zu, auch hier wurde bereits von den Zeitgenossen Culmanns viel historische Arbeit geleistet. Kaum zehn Jahre nachdem Culmann die neue Disziplin eingeführt hatte, erschienen zwei umfangreiche Übersichtsartikel, die auch die Vorgeschichte des neuen Faches untersuchten: der eine von dem bereits erwähnten Antonio Favaro [1873 Grafica] und der zweite von dem Culmann-Schüler Jacob J. Weyrauch [1874 Gr. Stat.]. Moritz Rühlmann gab 1885 in seinen Vorträgen über die Geschichte der technischen Mechanik einen vorzüglichen Überblick über die Frühgeschichte der graphischen Statik, und in zahlreichen Originalarbeiten finden sich historische Anmerkungen, so etwa in den Büchern von Müller-Breslau und Otto Mohr, allerdings kann man deren historische Zuschreibung nicht immer für bare Münze nehmen. Eine Fundgrube ist auch der Enzyklopädie-Artikel von Henneberg [1903].

Mitte der 1870er Jahre befand sich die graphische Statik auf dem Höhepunkt ihres Ansehens. lm Jahre 1874 befaßten sich z. B. in der Zeitschrift »Civilingenieur« etwa 20% des Bandes mit graphischen Methoden. In diesen Jahren entstanden auch Versuche zu einer graphischen Dynamik, einer graphischen Maschinenlehre, ja sogar einer graphiachen Ballistik. Das 2. und 3. Kapitel meiner Arbeit stellt die Entwicklung der graphischen Statik vom Kräfteparallelogramm bei Stevin bis zu ihrer Kanonisierung dar, das 4. Kapitel beschreibt die Entwicklung des graphischen Rechnens.

Im 5. Kapitel habe ich versucht, Prinzipien herauszuarbeiten, die für Culmanns graphische Statik bestimmend waren. Von besonderer Bedeutung scheint mir dabei sein Bemühen um Anschaulichkeit, oder genauer, um Visualisierung der Sachverhalte. An verschiedenen Beispielen, vor allem aber an seiner Planimetertheorie, versuche ich zu zeigen, daß für Culmann Verstehen im Idealfall mit sinnlicher Vorstellung verbunden ist.

Das 6. Kapitel unterzieht sich der mühsamen und nicht allzu dankbaren Arbeit, das Eindringen der graphischen Statik Statik in die Lehrangebote der Hochechulen und Universitäten in Europa und Amerika zu verfolgen. Diese Untersuchung bleibt notwendigerweise unvollständig. Genaueres Studium verdient vor allem die Verbreitung der graphischen Statik in Italien. Nur dort wurde sie in Culmannschem Sinne behandelt. Das war in erster Linie Cremonas Verdienst, aber auch das von Favaro. Bemerkenswert sind die engen Kontakte zwischen Italien und Deutschland. Zahlreiche italienische Autoren veröffendichten aueh in deutschen Zeitschriften, deutsche Lehrbücher wurden ins Italienische übersetzt und zumindest Antonio Favaro kannte sich in der deutschsprachigen Literatur zur graphischen Statik besser aus als viele deutsche Autoren.

Wenn man die Person Culmanns und sein Werk auf einen Begriff bringen will, dann könnte dies der Begriff der Kommunikation sein. Culmann wird einhellig als freundliche und liebenswürdige Persönlichkeit geschildert, daran ändern auch auch seine zum Teil recht harschen Urteile über Kollegen nichts oder seine hohen Ansprüche an seine Studenten und seine schwer verständlichen Vorlesungen. Ich kann mir diesen Widerspruch nur so erklären, daß Culmann durch sein persönliches Auftreten diese Defizite immer ausgleichen konnte.

Auch seine wissenschaftliche Arbeit zeichnete sich durch das Verbindende aus, er führte Mathematik und Technik zusammen, bemühte sich um die Verbindung von Theorie und Praxis, plädierte für enge Kontakte zwischen Technischen Hochschulen und Universitäten, und nicht zuletzt ist seine graphische Statik aus werbepsychologischer Sicht eine kommunikative Meisterleistung. Die Verknüpfung der graphischen Methoden mit der damals modernen, sich dynamisch entwickelnden projektiven Geometrie war die Voraussetzung, daß sich die graphische Statik eine gewisse Zeit als selbständige Disziplin in Szene setzen konnte. Für Culmann waren solche PR-Überlegungen natürlich kein Motiv dafür, die projektive Geametrie als Referenzdisziplin zu benutzen. Ihn leitete seine Liebe zur Mathematik, das daraus gespeiste Vertrauen in ihre analytische Kraft und das Potential der Geometrie, statische Zusammenhänge sichtbar zu machen.

Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts war im deutschsprachigen Raum die graphische Statik als selbständige Disziplin allgemein anerkannt, während si doch eigentlich immer nur eine Sammlung von wenig miteinanchr verbundenen Methoden war. Beim graphischen Rechnen, das Culmann zur graphischen Statik zählte, wurde dieser Charakter eines Sammelsuriums schon recht bald deutlich. Es ist natürlich reine Spekulation, aber vermutlich hätten sich die graphischen Methoden ohne den projektiven Überbau nicht als eigenständiges Gebiet profilieren kännen, sondern wären von Anfang an ein Teil der Baustatik bzw. der technischen Methoden geblieben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die graphische Statik dann endgültig von diesen Fächern aufgesogen.

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