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Alexander Kraft |
Kapitel 1.13 bis 1.16 als PDF herunterladen
Text ohne Bilder und Fußnoten.
Wir haben in den vorigen Abschnitten den Schauplatz der Erfindung des Berliner Blaus und das Umfeld, in der sie stattfand, näher kennengelernt. Nun wollen wir uns endlich mit dieser Entdeckung im Detail beschäftigen.
Es sind heute drei zeitgenössische Quellen bekannt, die uns darüber Auskunft geben, eine Chronik eines Berliner Stadtteils, ein wissenschaftliches Buch über die Phlogistontheorie von Georg Ernst Stahl und das schon erwähnte Senckenbergische Tagebuch.
Beginnen wir mit der Chronik. Sie stammt von einem gewissen Joachim Ernst Berger (1666–1734), einem in der Uckermark geborenen Theologen und Lehrer. Er war seit 1697 Erster Prediger an der Jerusalemkirche und der Neuen Kirche in der Berliner Friedrichstadt. Berger, der auch Autor mehrerer theologischer Werke war, hatte die handschriftliche Chronik mit dem Titel „Kern aller Friedrichs-Städtischen Begebenheiten“ versehen. Man findet sie heute in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin. In dieser Chronik beschreibt Berger Ereignisse aus allen Berliner Teilstädten, allerdings mit besonderem Fokus auf seine Friedrichstadt. In der Chronik lautet der zweite Eintrag für das Jahr 1706:
„hat alhier ein Schweitzer ein … H. Joh. Jacob Diesbach, eine gewisse blau Farbe erfunden, und glücklich zum Vorschein gebracht, welche das bekannte Ultra-Marin noch in etwas übertreffen soll; dahero ietzo unter dem Nahmen, Preussisches Ultra-Marin oder Berliner Blau, solche günstig verkaufet wird.“
Damit kennen wir das Jahr der Erfindung und einer der Erfinder wird namentlich genannt. Aber wie lief die Erfindung ab und war Johann Jacob (von) Diesbach wirklich der einzige Erfinder?
Eine der Quellen, welche die Erfindung beschreibt, ist das bereits 1731, also 25 Jahre nach der Erfindung, veröffentlichte Buch „Experimenta, Observationes, Animadversiones, CCC Numero, Chymicae et Physicae“ von Georg Ernst Stahl. Dieser lateinische Titel lässt sich in etwa mit „300 chemische und physikalische Experimente, Beobachtungen und Bemerkungen“ übersetzen. In diesem Buch geht es im Kern um 300 Experimente, mit denen Stahl seine Phlogistontheorie zu untermauern versucht. Eines dieser Experimente ist die Herstellung von Berliner Blau. In diesem Zusammenhang beschreibt er die erstmalige Herstellung dieser Substanz, also ihre Erfindung, so wie er sie gehört hat, denn zum Zeitpunkt der Erfindung 1706 war Stahl noch Professor in Halle. Erst 1715 wurde er als Erster Leibarzt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I., des Soldatenkönigs, nach Berlin berufen, also neun Jahre nach der Erfindung. Aber er konnte zu dieser Zeit noch mit direkt einem Beteiligten und Personen aus dem nächsten Umfeld sprechen.
Stahl schreibt in diesem kurzen Abschnitt seines Buchs, es sei „der Mühe wert …, das erste Experiment, wie es sich ereignet haben soll, zur fortwährenden Erinnerung an diese Begebenheit schriftlich festzuhalten.“ Damals habe Dippel, ein „wissbegieriger Erforscher der Chemie, ausgestattet, wie man sagt, mit einem zweckmäßigen Laboratorium“ in Berlin gelebt. Neben anderen Versuchen habe er Tieröl („Oleum animale“) durch wiederholte Destillation von Pottasche gereinigt. Dadurch hatte er „eine beträchtliche Menge eines derartigen, bei der wiederholten Austreibung jenes Öls zurückgebliebenen Salzes, die in Gläsern aufgehoben worden ist“, vorrätig.
Pottasche ist chemisch gesprochen Kaliumcarbonat K2CO3, welches damals hauptsächlich durch Auslaugen von Asche in großen Pötten gewonnen wurde. Dazu wurde zum Beispiel Holz verbrannt. Nach dem Auslaugen der dadurch gewonnenen Asche mit Wasser wurde die so erhaltene Lauge bis zur Trockne eingedampft und danach im Feuer calciniert. Das weiße Pulver ist hygroskopisch, nimmt also leicht Wasser auf und reagiert dann stark alkalisch, weil dabei auch Kalilauge – KOH, Kaliumhydroxid –, entsteht. Da es sich nicht verflüchtigt, wurde dieses Alkali von den Chemiker-Alchemisten auch fixes Alkali genannt, im Gegensatz zum leicht flüchtigen Ammoniak NH3, der flüchtiges Alkali hieß. Pottasche wurde aber nicht nur durch Auslaugen von Holzasche hergestellt, sondern man konnte sie auch aus Weinstein durch Verpuffung mit gleichen Teilen Salpeter, also Kaliumnitrat KNO3, gewinnen. So viel zur Pottasche, die Dippel wohl zur Reinigung seines Tieröls verwendete, jedenfalls wenn wir Stahl folgen.
Doch bleiben wir bei Stahls Bericht über die Berliner-Blau-Erfindung. Stahl berichtet nämlich weiter, dass in Dippels Labor damals ein Künstler namens Diesbach, also unser Johann Jacob von Diesbach, gearbeitet habe. Der habe für Maler eine rote Lackfarbe, den sogenannten Florentiner Lack hergestellt.
Was ist denn nun schon wieder Florentiner Lack? Wie der Name schon sagt, wurde er in Florenz erfunden, und zwar, das ist etwas legendenhaft, von einem Franziskanermönch, der ein Mittel gegen Fleckfieber finden wollte. Hergestellt wird Florentiner Lack aus dem roten Farbstoff der Cochenilleläuse (Dactylopius coccus). Der Farbstoff heißt Karminsäure, wird aber auch Cochenillerot genannt. Die Cochenilleläuse lebten ursprünglich auf bestimmten Kaktusarten, den sogenannten Opuntien, in Süd- und Mittelamerika. Schon vor der Eroberung dieser Gebiete durch die Spanier nach 1492 wurde das Cochenillerot von den Einwohnern dieser Länder gewonnen und als Farbstoff zum Färben von Textilien eingesetzt. Die Spanier führten diesen roten Farbstoff dann auch in Europa ein. Cochenillerot ist aber nur ein Farbstoff. Bei der Florentiner-Lack-Herstellung macht man daraus ein Pigment.
Dazu kurz folgende Erklärung: Grundsätzlich werden Farbmittel in zwei Gruppen eingeteilt, in Farbstoffe und Pigmente. Farbstoffe sind im entsprechenden Anwendungsmedium, also zum Beispiel in Wasser löslich, Pigmente sind unlösliche Feststoffe. Farbstoffe setzt man zum Beispiel zum Färben von Stoffen ein, Pigmente im Druck oder in der Malerei. Bei der Farblackherstellung wird ein löslicher Farbstoff durch eine chemische Reaktion in einen unlöslichen Zustand überführt, so dass man praktisch ein Pigment erhält.
Genau das machte Johann Jacob von Diesbach an einem Tag des Jahres 1706 im Laboratorium von Dippel in Berlin. Er stellte auf Anforderung aus Cochenilleläusen ein rotes Pigment für einen Malerlack her. Dazu pulverisierte er zuerst die getrockneten Cochenilleläuse. Dann warf er dieses Pulver in eine warme wässrige Alaunlösung. Alaun ist eine Kalium-Aluminiumsulfatverbindung. In dieser leicht sauer reagierenden wässrigen Lösung löst sich die Karminsäure. Die Lösung färbt sich dabei tiefrot ein.
Man filtriert die festen Cochenillelausreste ab und fällt dann aus dieser roten Lösung durch Zugabe der richtigen Menge einer alkalischen Pottaschelösung den roten Florentiner Lack aus. Bei dieser Ausfällung entsteht aus dem in saurer Lösung gelösten Alaun durch Neutralisierung mit der Pottaschelösung festes weißes Aluminiumhydroxid, Tonerdehydrat. An diesem festen pulverförmigen Träger werden die Karminsäuremoleküle an der Oberfläche adsorbiert, wodurch das Material die rote Farbe der Karminsäure erhält. Nach Abfiltrieren und Trocknen hat man dann das auslieferbare Produkt. Das ist die übliche Art und Weise der Herstellung des Florentiner Lacks.
Diesbach hatte, und das ist sehr wichtig, zu der warmen Alaunlösung noch englisches Vitriol, also Eisen(II)-sulfat FeSO4 hinzugegeben. Das verschiebt, wie Versuche des Autors zeigten, den Farbton der roten Karminsäure etwas in Richtung Violett. Vielleicht hatten sich seine Auftraggeber genau so ein violettstichiges Rotpigment gewünscht.
Bei der denkwürdigen ersten Herstellung des Berliner Blaus fragte Diesbach Dippel, wie Stahl berichtet, ob er die oben beschriebene, in Gläsern aufbewahrte bei der Reinigung des Tieröls eingesetzte Pottasche verwenden dürfe. Dippel stimmte zu und Diesbach erhielt nun auf einmal anstatt seiner roten eine tiefblaue Ausfällung. Diesbach sei überrascht gewesen, schreibt Stahl, und habe sich an Dippel gewandt, der jetzt erkannte, um welche Pottasche es sich bei der von Diesbach verwendeten handelte. Da die besagte verunreinigte Pottasche ihre besonderen blaufärbenden Eigenschaften durch Mischung mit einem aus Blut abdestillierten Tieröl und nachfolgende Erwärmung erhalten hatte, war für Dippel klar, was zu machen war: Pottasche direkt mit getrocknetem Blut entsprechend mischen und kräftig erhitzen. – Das ist, mit einigen Erklärungen versehen, die Beschreibung der Erfindung des Berliner Blaus von 1706 durch Stahl im Jahr 1731.
Es gibt aber noch eine zweite, bisher weniger bekannte Beschreibung der Erfindung des Berliner Blaus, und zwar durch Dippel selbst, aufgeschrieben durch seinen jungen Freund und Bewunderer Johann Christian Senckenberg in dessen Tagebuch. Sie stammt aus dem Jahr 1732, wurde allerdings erst vor wenigen Jahren für die Forschung zugänglich. Denn erst seit 2010 werden die von 1730 bis 1772 laufenden etwa 40.000 engbeschriebenen und extrem schwer lesbaren Blätter des Senckenbergischen Tagebuchs transkribiert.
Johann Christian Senckenberg war ein wohlhabender Arzt in Frankfurt am Main. Da seine Kinder vor ihm starben, gab er sein Vermögen in eine gemeinnützige Stiftung, aus der unter anderem die heutige, seinen Namen tragende Frankfurter Universitätsbibliothek und die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung hervorgegangen sind. Aber in der Zeit, die uns interessiert, war es noch nicht so weit, Senckenberg hatte sein Medizinstudium in Halle bei Friedrich Hoffmann abgebrochen und war zu seiner Mutter nach Frankfurt zurückgekehrt. In dieser Zeit der Krise, die allerdings keine finanzielle war, denn seine Familie hatte ausreichend Geld, besuchte er den von ihm verehrten Johann Conrad Dippel im April und im August 1732 jeweils für einige Tage in Berleburg. In dieser Zeit führte Senckenberg schon äußerst akribisch Tagebuch, auch über sein persönliches Befinden. Man kann dort ganz erstaunliche Details lesen, wie zum Beispiel Aussagen zum Geruch seiner Fürze, ich zitiere ein kurzes Beispiel aus dem Lateinischen ins Deutsche gebracht: „Aufstoßen, Darmrumpeln, sulfurisch stinkender Furz“. Aber das nur am Rande.
Bei Senckenbergs zweitem Besuch bei Dippel in Berleburg erzählte ihm Dippel am 22. August 1732 die Geschichte der Erfindung des Berliner Blaus, so wie er sie in Erinnerung hatte. Demnach drehte sich Dippels Berliner Laborarbeit damals nicht um sein Tieröl, sondern um ein Sal Volatile, von dem er eine größere Menge herstellte. Als Sal Volatile, also flüchtiges Salz, bezeichnete man in dieser Zeit meist Ammoniumhydrogencarbonat, welches instabil ist und auch unter normalen Umgebungsbedingungen langsam in Ammoniak, Kohlendioxid und Wasser zerfällt. Der entweichende Ammoniak gibt dem Sal Volatile einen scharfen, stechenden Geruch. Diese daher auch als Riechsalz bezeichnete Substanz war in früheren Jahrhunderten ein wichtiges und verbreitetes Mittel zur Belebung bei Schwindel- und Ohnmachtsanfällen, bei denen es der betroffenen Person unter die Nase gehalten wurde. Ammoniumhydrogencarbonat wird auch heute noch unter der Bezeichnung Hirschhornsalz als Backtriebmittel insbesondere in der Weihnachtszeit für Lebkuchen und Plätzchen verwendet.
Zu Herstellung des Sal Volatile habe Dippel damals Weinstein calciniert und ihn dann mit getrocknetem Ochsenblut vermischt. Diese Mischung kam in eine Retorte, es wurde kräftig Feuer gegeben und das Sal Volatile ausgetrieben. Die im Boden der Retorte zurückgebliebenen unverdampfbaren Reste, man sprach damals vom Caput Mortuum, dem Totenkopf, wollte Dippel eigentlich wegwerfen. Nun war es aber damals so, dass in Dippels Berliner Laboratorium ein junger Gehilfe namens Rösser mitarbeitete. Dieser damalige Laborant war übrigens der Sohn des aus Buttstädt in Thüringen stammenden Arztes Jacob Rösser (1642 – nach 1712), der unter den Pseudonymen Johann de Monte Raphaim und J. R. V. M. D. mehrere alchemistische Traktate veröffentlicht hatte. Der junge Rösser hatte es sich angewöhnt, immer alles an Chemikalienresten und Reaktionsnebenprodukten aufzuheben und auch ein Register darüber zu führen. So füllte Rösser auch die etwa sechs Pfund der Reste aus der Sal-Volatile-Herstellung nach einer Auslaugung noch feucht in ein Zuckerglas und beschriftete es fälscherlicherweise mit „Pottasche“, anstatt mit „Reste von Pottasche und Blut“.
In dem Labor von Dippel arbeitete damals auch ein Lieutenant Diesbach, der Florentiner Lack und andere Farben herstellte. Bei der denkwürdigen ersten Berliner-Blau-Herstellung griff sich Diesbach dieses Glas mit Pottasche, Rösser war zu diesem Zeitpunkt nicht im Laboratorium, und wollte es zur Fällung des Florentiner Lackes benutzen. Als er es zu seiner Alaun-haltigen Karminsäurelösung gab, bekam er anstelle der roten Farbe eine blaue, das Berliner Blau. Diesbach habe dann, so Dippel, „einen Accord mit den Malern“ gemacht, „ihnen so und so viel zu liefern, geriet aber auf den Strumpf, als das Glas aus war“ und er keine schöne blaue Farbe mehr produzieren konnte. Diesbach wäre dann zu Dippel gekommen und habe ihm die Geschichte erzählt. Dippel erkannte, mit welcher Art Pottasche Diesbach das Berliner Blau hergestellt hatte und sagte ihm, er solle Pottasche und Ochsenblut nehmen, und damit konnte Diesbach dann wieder Berliner Blau herstellen.
So, damit haben wir nun zwei Versionen über die erstmalige, rein zufällige Herstellung des Berliner Blaus kennengelernt. Doch welche ist die Richtige und unterscheiden sie sich überhaupt grundlegend? In der Version nach Stahl entstand Berliner Blau durch kontaminierte Pottasche aus Dippels Tierölproduktion, nach Dippels eigener Version stammte die verunreinigte Pottasche aus der Herstellung eines Sal Volatile. Natürlich ist die Version von Dippel glaubwürdiger, da er ja über seine eigene Tätigkeit berichtet, während Stahl seine Informationen nur aus zweiter oder dritter Hand haben konnte.
Andererseits ist es so, dass man bei der sogenannten trockenen Destillation von tierischen Substraten, sei es Hirschhorn, getrocknetes Blut oder Anderes, sowohl ölige Produkte (Tieröl), als auch flüchtiges Salz (Sal volatile) erhält. Zum Teil gehen sie bei unterschiedlichen Temperaturen über, zum Teil ist es so, dass es Temperaturbereiche gibt, bei denen beide Produktgemische übergehen. Dann sammelt sich das Tieröl in der Vorlage, während das weiße Sal Volatile teilweise schon im Retortenhals ansublimiert.
Jetzt noch einmal kurz eine Betrachtung zu der Frage, wer denn nun der Erfinder des Berliner Blaus ist, von Diesbach oder Dippel, oder doch beide? Es ist ganz klar, dass Johann Jacob von Diesbach erstmals zufällig Berliner Blau hergestellt hat. Das geschah allerdings dadurch, dass er eine falsch beschriftete kontaminierte Pottasche verwendet hatte, die von Dippel bei anderen chemischen Operationen hergestellt worden war. Ohne Dippels Mithilfe konnte Diesbach nicht in Erfahrung bringen, auf welche Art und Weise die Pottasche behandelt werden muss, damit sie zur Berliner-Blau-Herstellung dienen kann. Also ist meines Erachtens davon auszugehen, dass wir zwei Erfinder des Berliner Blaus haben, Johann Jacob von Diesbach und Johann Conrad Dippel.
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https://www.gnt-verlag.de/berliner-blau-2-1118-zusammenfassung.html (Stand: 03.12.2024. 17:27)
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