In meinem Aufsatz “Hat Otto Hahn mit den Nazis kollaboriert?” setze ich mich mit dem Bild von Otto Hahn auseinander, wie es von Ruth Lewin Sime in ihrer Meitner-Biographie und anderen Schriften und Vorträgen gezeichnet wird. Hier ging es um einen Beitrag von Frau Sime, der sich mit Hahns Rolle während des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzte. Er wurde in dem Sammelband von Helmut Maier „Gemeinschaftsforschung, Bevollmächtigte und der Wissenstransfer“ von 2007 veröffentlicht und nochmals 2012 auf Englisch in der Zeitschrift ‚Physics in Perspective‘. Der Aufsatz vermittelte – knapp zusammengefasst - die These, dass Hahn sich selbst und sein Institut kriegsbegeistert den Nazis angedient hätte. Ich habe in meinem Aufsatz gezeigt, dass die von Frau Sime aufgeführten Widersprüche in Hahns Persönlichkeit nur scheinbar entstehen, wenn die Quellen mit der Voreinstellung eines geltungssüchtigen und kriegsbegeisterten Otto Hahn ausgewertet werden. Hahn wird dabei in eine Reihe mit „vielen Wissenschaftlern während des Nationalsozialismus“ gestellt, denen viele Historiker eine „irresponsible purity“ bescheinigen. Ich habe anhand der Quellen gezeigt, dass mit dieser Pauschalisierung Otto Hahn unzutreffend beurteilt wird. Ich vermutete eine negative Voreinstellung Simes gegenüber Hahn, was sie bei ihrer Quellenauswahl beeinflusst haben könnte. Um diese Vermutung zu begründen, zitiere ich auf S. 345 einen Brief von Martin Straßmann vom 11.11.2012.
Frau Lewin Sime rief mich (vor etwa 30 Jahren) an und meinte, es müsse sich doch lohnen, in Deutschland den Hahn-Nachlaß zu durchstöbern; sicherlich kämen dabei auch einige ‚braune Flecken‘ zum Vorschein.
Zu dieser Aussage sendete mir Frau Sime am 05.09.2018 per Mail folgende Gegendarstellung:
1. I never contacted Martin Strassmann, by phone or any other way. It is not my practice to call up people I don’t know. When I wanted to interview someone for my Meitner research, I would write a letter to introduce myself. I never wrote to Martin Strassmann for an interview, in fact it never occurred to me to contact him because I never thought I could learn anything from him about Meitner.
2. The term “braune Flecken” is not in my vocabulary. And it would not occur to me to comb through the Hahn Nachlass in order to look for negative things about Hahn. Martin Strassmann’s statement is false, and an insult to me as a scholar.
Das überraschte mich, denn bei meinem Gespräch mit Herrn Straßmann (2012 in Mainz) hat er mir von seinem Kontakt mit Frau Sime einen anderen Eindruck vermittelt, den er auch schriftlich bestätigte. Frau Simes Gegendarstellung sendete ich an Martin Straßmann und bat ihn um eine Stellungnahme. Er antwortete am 25.09.2018:
Die damals von mir gemachte Aussage kann ich heute ohne Einschränkung bestätigen – Sie können sie jederzeit verwenden. Wenn Mrs. Sime erklärt, sie habe mich nie kontaktiert, so irrt sie. Aber dies muß 30 Jahre (!) vor meinem Schreiben an Sie gewesen sein, da mag sie sich möglicherweise nicht mehr erinnern (siehe mein Schreiben vom 11.11.2012, 4. Zeile). Insbesondere meine Einschätzung des Enkels von Otto Hahn ist mir noch erinnerlich: Wenn es da etwas bezüglich „brauner Flecken“ bei Otto Hahn gegeben hätte, so hätte er es längst „wegzensiert“. Mrs. Sime könne sich also eine Reise nach Deutschland und Untersuchungen des Nachlasses von Otto Hahn sparen.
Herr Straßmann hat seine Aussage nach Überlegung noch einmal mit einem Detail bekräftigt (wobei eine „Zensur“ seitens Dietrich Hahns allerdings nur eine persönliche Einschätzung der Familie Straßmann ist). Frau Sime schreibt, dass sie nie den Kontakt zu ihm benötigt hat, was plausibel ist. Sie hat mit Irmgard Straßmann korrespondiert und Dokumente ausgetauscht. Herr Straßmann hat seine Aussagen nach sechs Jahren nochmals durch eine plausible Detailbeschreibung schriftlich bekräftigt. In einem Telefonat, welches ich mit ihm Anfang September 2018 führte, schloss er spontan aus, dass er sich in der Person geirrt haben könnte, was er schriftlich bekräftigte. Auch gehört er nicht gerade zu den Freunden der Familie Hahn. Ganz im Gegenteil betont er auch heute seine Abneigung gegen Hahns Enkel. Seine Aussagen sind daher glaubwürdig. Es handelt sich dabei nicht um eine Beschuldigung Frau Simes, sondern um eine Beschreibung einer Begebenheit, bei der ihm etwas gesagt wurde und was er darauf geantwortet hat.
Ich verwende das Zitat von Herrn Straßmann als Indiz für meine Vermutung, dass Frau Sime die Quellen entsprechend ihrer persönlichen Einstellung zu Otto Hahn auswertet. Dass ich mit diesem Eindruck kein Einzelfall bin, zeigt beispielsweise ein Statement von Monica Frisch, der Tochter von Otto Robert Frisch, welches sie mir in einer Mail vom 6. November 2017 mitteilte:
As I recollect, when it [Simes Meitner-Biographie] was published my mother [Ulla Frisch] felt strongly that Sime had pushed her feminist ideas and her suggestion that Meitner did not get proper recognition because of Hahn, too hard.
Es muss festgehalten werden, dass Frau Sime Herrn Straßmanns Darstellung, das Gespräch hätte mit ihr stattgefunden, entschieden als unwahr zurückweist. Erinnerungen sind immer mit dem Risiko des Irrtums behaftet. Das darf man nie vergessen. Es freut mich, dass Frau Sime versichert, dass sie nicht der Gesprächspartner war und solche Vokabeln, wie „braune Flecken“, nicht von ihr benutzt werden.
Für den Zweck der historischen Aufklärung kann Herrn Straßmanns Aussage dennoch nicht unerwähnt bleiben. Denn über dieser Frage ist nicht zu vergessen, dass es tatsächlich einen Beschuldigten gibt: Otto Hahn. Ruth Lewin Sime beschuldigt ihn, dass er nicht nur Lise Meitners Anteil an der Entdeckung der Kernspaltung zu seinen Gunsten unterdrückt hätte, sondern auch, dass er seine Dienste dem Nazi-Regime willig zur Verfügung gestellt hätte. Diese Statements, die Otto Hahns Ansehen als Wissenschaftler und Mensch schwer beschädigten, sind nicht haltbar, wie ich im Einzelnen belegen konnte. Die Quellen zeigen eher ein gegenteiliges Bild. Diese Anschuldigungen wurden von den Zeitgenossen, einschließlich Lise Meitner, nie auch nur angedeutet.
Frau Sime hat den GNT-Verlag als „remarkably unprofessional“ bezeichnet, was ihn als Fachverlag diskreditiert. Es ist sehr professionell, dass GNT Frau Simes Statement, trotz dieses Angriffs auf seiner Seite veröffentlicht. Die Herren vom Verlag sind examinierte Wissenschaftshistoriker und ich habe sowohl das Lektorat, als auch die Projektorganisation als absolut fachkompetent und professionell erlebt. Das werden alle Mitautoren bestätigen. Das Buch war bei einem anspruchsvollen Zeitplan auf den Tag pünktlich in der Druckerei.
Ich bedauere heute und entschuldige mich, dass dieser Austausch mit Frau Sime nicht vor der Veröffentlichung erfolgt ist, sonst hätte ich ihre Gegendarstellung schon in den Text integrieren können. Was wir aber aus Martin Straßmanns Aussage entnehmen müssen ist, dass sich jemand an ihn gewendet hat mit der Absicht, irgendwelche Verbindungen Otto Hahns zu den Nationalsozialisten aufzuspüren, um ihn zu diskreditieren. Dies ist ein Beispiel, wie man nicht an die Geschichtsschreibung heran gehen sollte. Es ist auch ein Beispiel, wie Erinnerungen von verschiedenen Personen subjektiv verschieden gewichtet werden – leider sind aber Erinnerungen oft die einzigen Quellen. Jede geschichtliche Darstellung kann nur ein Ausschnitt und nur eine Annäherung an die historische Wirklichkeit sein. Entsprechend vorsichtig sollte man mit Verurteilungen sein.