Verlag für Geschichte
der Naturwissenschaften
und der Technik
Christoph Meinel; Peter Voswinckel (Hrsg.) |
Als die Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik für den Herbst 1978 zu ihrer 61. Jahrestagung nach Coburg einlud, hieß das Rahmenthema »Wissenschaft und Zeitgeist«. In der Einladung war die Rede von der gewandelten Einstellung der Öffenflichkeit zur Wissenschaft, vom Ende einer Epoche der Wissenschaftsgläubigkeit und von kritischen Anfragen zu dem Kurs, den Medizin, Naturwissenschaft und Technik der Gegenwart eingeschlagen haben. Daneben standen zwei weniger verfängliche Themenschwerpunkte zur Geographiegeschichte und zur Historischen Pathologie auf dem Programm.
Nicht vorauszusehen war damals, daß ein ganz anderes Thema im Brennpunkt der Aufmerksamkeit jener Coburger Tagung stehen würde: die Geschichte der Wissenschaften im Nationalsozialismus. Ihr waren die sieben Vorträge der ersten Fachsitzung gewidmet. Zwei Jahre später ist daraus der von Herbert Mehrtens und Steffen Richter herausgegebene Suhrkamp-Band Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie: Beiträge zur Wissenschafisgeschichte des Dritten Reichs (Frankfurt am Main 1980) hervorgegangen, der inzwischen geradezu als ein Klassiker dieses Forschungsgebietes gelten darf.
Das Thema war damals wenn auch nicht mehr tabu, so doch immer noch kontrovers und herausfordernd. Zwar hatte die politische Geschichte des Nationalsozialismus längst das Forschungsinteresse der Allgemeinhistoriker auf sich gelenkt, waren die Wechselwirkungen von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft zu einem zentralen Aufgabenfeld der Wissenschaftsgeschichte geworden, und es gab eine lebhafte öffentliche Diskussion um die Frage nach der Steuerung und der politischen Kontrolle von Technik und Wissenschaft. Daß freilich gerade an der Geschichte von Medizin, Naturwissenschaft und Technik während des Nationalsozialismus sich solche Zusammenhänge überdeutlich aufzeigen lassen und damit wichtige Erkenntnisse über Wissenschaft allgemein zu gewinnen sind, war damals noch keineswegs Gemeingut des Faches Wissenschaftsgeschichte. Die erste größere, einschlägige Studie, die sowohl von Naturwissenschaftlern als auch von Wissenschaftshistorikern nachhaltig rezipiert wurde, Alan D. Beyerchens Scientists under Hitler, war gerade ein Jahr zuvor in den Vereinigten Staaten erschienen und kam erst 1980 auch in deutscher Ubersetzung heraus. So fiel jener ersten Fachsitzung auf der Coburger Tagung im September 1978 tatsächlich die wichtige Aufgabe zu, ein breiteres deutsches Fachpublikum erstmals auf ein hochaktuelles Arbeitsgebiet hinzuweisen. Es galt aber auch, den verstreuten Forschungsstand einer ersten Sichtung zu unterziehen und Perspektiven künftiger Forschung aufzuzeigen.
Naturgemäß konzentrierte sich das Interesse zunächst auf die Indienstnahme von Wissenschaft durch die völkische und rassistische Ideologie der nationalsozialistischen Machthaber. 'Deutsche Physik', 'Deutsche Mathematik', 'Eugenik' und 'Rassenbiologie' schienen prototypisch für die Verbindung von Wissen und Macht. Zugleich stand damit die von der Diskussion um Thomas S. Kuhn neu aufgeworfene Frage nach der Objektivität und Rationalität der Naturwissenschaft zur Debatte, und es dürfte von vielen als beruhigend empfunden worden sein, daß sich in den genannten 'völkischen' Disziplinen gute und schlechte Wissenschaft, auch: gute und schlechte Wissenschaftler, meist recht eindeutig unterscheiden ließen.
Seitdem haben sich die Akzente der Forschung verlagert, hat sich das Spektrum der Fragestellungen und Resultate verbreitert. Wissenschafts- und Technikhistoriker haben unser Verständnis für das Funktionieren des NS-Staates im Neben- und Gegeneinander von Interessen und Kompetenzen vertieft. Die simple Scheidung in 'gute' und 'schlechte' Wissenschaft ist der Einsicht in eine komplexe Gemengelage von Geben und Nehmen, von Verboten und Freiräumen, von Hemmungen und Förderungen gewichen. In großer Breite und Vielfalt ist auch die Geschichte von Personen und Personengruppen, von Verbänden und Gesellschaften, von Instituten und Hochschulen untersucht worden – oft im Bemühen um eine späte, doch notwendige ,Aufarbeitung' der eigenen Vergangenheit. Stets präsent war dabei die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers und nach dem Ethos der Wissenschaft insgesamt. Deutlich wurde aber auch, daß viele für die NS-Wissenschaft typischen Ansichten, Verhaltensweisen und Strukturen lange vor 1933 angelegt waren. Stärker in den Blick geraten ist schließlich die konkrete Praxis der Wissenschaften, ihre Inhalte, Methoden, Zielsetzungen und Strategien sowie die wechselnden Koalitionen, die Mediziner, Naturwissenschaftler oder Techniker eingehen, um ihr Arbeitsprogramm erfolgreich voranbringen zu können.
Die Vielfalt der in der Zwischenzeit publizierten Arbeiten zur Geschichte von Medizin, Naturwissenschaft und Technik im Nationalsozialismus ließ es sinnvoll erscheinen, eine Art Zwischenbilanz des erreichten Forschungsstandes zu ziehen. Dabei sollte nicht zuletzt deutlich werden, wie sich unser Wissen seit jener Coburger Tagung von 1978 verbreitert und verändert hat, wohin die damals gegebenen Anstöße geführt haben, wo neue Fragestellungen hinzugekommen und wo Forschungsdesiderate offenbar geworden sind.
Diese Aufgabe hatte sich die Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik auf ihrer 75. Jahrestagung gestellt, die vom 25. bis 28. September 1992 in den Räumen der Friedrich-Schiller-Universität Jena stattfand. Den Abschluß bildete eine Exkursion in das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald. Professor Dr. Rüdiger Stolz und Dr. Erika Krauße hatten die Veranstaltung in dankenswerter Weise betreut und organisatorisch vorbereitet.
Die Jenaer Tagung stand unter dem Vorzeichen einer sich grundlegend verändernden Wissenschaftslandschaft in Deutschland. Schon äußerlich kam dies in der Wahl des Tagungsortes zum Ausdruck. Denn damit bot sich die Chance, im Rahmen derjenigen Fachgeselischaft, die sich seit ihrer Gründung im Jahre 1901 stets als das zentrale Forum der deutschen Medizin- und Wissenschaftsgeschichte verstanden hat, die unterschiedlichen Traditionen der ostdeutschen und der westdeutschen Historiographie zusammenzuführen. Zudem waren im Prozeß der deutschen Vereinigung Archive und Materialien zugänglich geworden, aus denen sich Problemstellungen und Perspektiven gemeinsamer Forschung ergaben.
Die Aufgaben der Einheit, die Erfahrung des Untergangs eines ganzen Staates und der Ubernahme von Normen und Strukturen über Systemgrenzen hinweg hatten freilich auch die historische Sensibilität für die Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten historischen Wandels geschärft. Vergleiche mit den Schwellenjahren 1933 oder 1945/49 drängten sich auf. Die vielschichtigen strukturellen, institutionellen und personellen Kontinuitäten sowohl zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich als auch zwischen Drittem Reich und früher BRD bzw. DDR verbieten es dem Historiker, Deformationen der Wissenschaft und Fehlverhalten von Wissenschaftlern mit dem Verweis auf die Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur allzu eilfertig zu exkulpieren. Stattdessen stellen sich hier viel grundsätzlichere Fragen nach dem Verhältnis von Wissenschaft, Gesellschaft und Staat – Fragen, die alles andere als von 'bloß' historischer Relevanz sind, da ihr kritisches Potential auch unser eigenes Verständnis von Medizin, Naturwissenschaft und Technik berührt.
Das Spannungsverhältnis von Konfinuität und Diskontinuität ist ein Schlüsselproblem der politischen Geschichte wie der Wissenschaftsgeschichte. Denn daran werden Mechanismen und Strukturen sowohl des Wandels als auch der Resistenz gegen Neues sichtbar, sehr konkrete Mechanismen und Strukturen im übrigen, die einmal mehr zeigen, daß Wissenschaft es eben nicht bloß mit Ideen und Daten und Fakten zu tun hat.
In diesem Sinne hatten wir aus Ost und West um Beiträge zum Thema »Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus« gebeten und im Untertitel die Frage nach »Kontinuitäten und Diskontinuitäten« gestellt. Da die Einladung explizit den Bezug zur Coburger Tagung von 1978 hergestellt hatte, verstand es sich von selbst, daß auch diejenigen, die damals vorgetragen hatten, wieder angesprochen wurden. Besonders dankbar waren wir, daß Herbert Mehrtens auf unsere Bitte hin die anspruchsvolle Aufgabe übernommen hat, erneut einen Uberblick über den internationalen Forschungsstand zu geben. Auf diese Weise werden auch Kontinuität und Wandel von Fragestellungen und Ergebnissen der historischen Forschung deutlich. Andere Beiträge haben diese historiographische, die Voraussetzungen unseres eigenen Tuns als Wissenschaftshistoriker reflektierende Perspektive aufgegriffen, und so bildet der kritische Bericht von Werner Friedrich Kümmel über die Medizingeschichtsschreibung im Dritten Reich den logischen Schluß des vorliegenden Bandes.
Wichtig war uns ferner, das anspruchsvolle Thema nicht ausschließlich aus deutscher Perspektive anzugehen. Zu diesem Zwecke hatten wir – mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft – Historiker aus England und den Vereinigten Staaten eingeladen, um ihre Sichtweise mit der unseren zu vergleichen. Die geplante Einladung eines polnischen Kollegen hat sich leider nicht realisieren lassen.
Die Reihenfolge der Beiträge im vorliegenden Band folgt nicht der auf der Tagung. Durchbrochen wurde insbesondere die Einteilung nach Fachgebieten. Denn die historischen Gemeinsamkeiten der behandelten Themen schienen uns wichtiger als fachspezifische Besonderheiten. So beginnt der Band mit einer Übersicht über den Forschungsstand in zeitgeschichtlicher Perspektive. Es folgen Beiträge zur Geschichte von Fakultäten, Forschungseinrichtungen, Krankenhäusern und Industriebetrieben, hier unter der Uberschrift »Institutionen« zusammengestellt. Der Abschnitt »Disziplinen« umfaßt Beiträge zu einzelnen Arbeits- und Forschungsrichtungen, »Karrieren« berichtet von Aufstieg und Schicksal einzelner Berufsgruppen, Personen und ihrer Lehren. »Verdrängungen« zielt auf die Ausgrenzung und Vernichtung von Randgruppen und von Schwachen, aber auch auf die Verdrängung der Erinnerung daran. Dies leitet über zu »Historisierungen«, wobei es um die Rolle unserer eigenen Disziplin, der Medizin- und Wissenschafts~eschichte, geht.
Leider konnten nicht alle der in Jena gehaltenen Diskussionsvorträge in diesem Bande vereinigt werden. So ist die Biographie des Medizinhistorikers Richard Koch aus der Feder von Gert Preiser bereits im Nachrichtenblatt der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik 42 (1992), 5. 151-154, abgedruckt worden; ist der Tagungsbeitrag von Renate Tobies über »Mathematiker und Mathematikunterricht in der Weimarer Republik« in dem von Reinhard Dithmar herausgegebenen Band Schule und Unterricht in der Endphase der Weimarer Republik: Auf dem Weg in die Diktatur (Neuwied/Berlin 1993), S. 244-261, erschienen und wird der von Helmuth Trischler unter dem Titel »Self-mobilization or resistance! Aeronautical research and National Socialism« in dem von Monika Renneberg und Mark Walker herausgegebenen Sammelband Science, Technology and National Socialism (Cambridge 1994), S.72-87, 356-358, gedruckt.
Es war der Wunsch des Vorstandes und der Herausgeber, mit diesem Band die Ergebnisse einer besonders erfolgreichen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik zu dokumentieren – einer Tagung, deren Ertrag sich letztlich auch Impulsen verdankt, denen die Gesellschaft auf ihrer Jahrestagung von 1978 erstmals zu größerer Sichtbarkeit verholfen hatte. Seitdem ist das Thema Medizin, Naturwissenschaft und Technik im Nationalsozialismus in einzelnen Vorträgen der Jahrestagungen immer wieder aufgegriffen worden. Die Veröffentlichung des vorliegenden Bandes dürfen wir daher mit dem Wunsch verbinden, daß die Tagungen der Gesellschaft auch in Zukunft von kontroversen Themen sowie von den kritischen Ansätzen gerade auch jüngerer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler profitieren werden.
Die Herausgeber
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