Verlag für Geschichte
der Naturwissenschaften
und der Technik
Michael Schaaf |
"Persönlichkeiten, nicht Prinzipien halten die Welt in Bewegung."
(Oscar Wilde)
Es gehört mittlerweile zum ehernen Bestandteil der wissenschaftsgeschichtlichen Folklore, die Gründe für das Scheitern des deutschen Atomforschungsprogramms im Zweiten Weltkrieg entweder im fachlichen Unvermögen oder in der mangelnden Einsatzbereitschaft der beteiligten Physiker zu suchen. In jüngster Zeit hat die zum Teil sehr emotional geführte Debatte durch Michael Frayns Theaterstück "Kopenhagen" neue Nahrung erhalten. Im vorliegenden Buch wird versucht, mit der Methode der Oral History die spezifischen Rand-bedingungen für das ?Versagen? der deutschen Atomforscher näher zu beleuchten – ein wissen-schaftliches Versagen, das ein politischer Segen war.
In Anlehnung an die von James Blight an der Brown University entwickelte Technik der "kritischen Oral History", wird versucht, Zeitzeugen des geheimen deutschen Uran-forschungsprogramms auf der Grundlage inzwischen freigegebener Originaldokumente zu befragen. Hierbei handelt es sich im wesentlichen um die ehemals "Geheimen Forschungs-berichte" zur deutschen Atomforschung während des Zweiten Weltkrieges und die 1991 freigegebenen Abhörprotokolle von Farm Hall.
Über 60 Jahre nach Entdeckung der Kernspaltung und der Bildung des sogenannten "Uranvereins" gibt es nur noch wenige Zeitzeugen, die aus erster Hand über die Forschung in jener Zeit in Deutschland berichten können. Mit Carl Friedrich von Weizsäcker und Erich Bagge gelang es dem Autor, die beiden letzten noch lebenden Wissenschaftler aus dem inneren Kreis des "Uranvereins" zu ihrer Tätigkeit zu befragen. Zusammen mit Paul Harteck gehörten Weizsäcker und Bagge zu den zehn deutschen Atomforschern, die 1945 von den Alliierten im englischen Farm Hall für ein halbes Jahr interniert worden waren und deren Gespräche heimlich aufgezeichnet wurden. Heinrich Medicus vom Rensselaer Polytechnic Institute (RPI) in Troy (USA) war so freundlich, sein Interview mit Paul Harteck zur Verfügung zu stellen. Harteck war der wohl entschiedenste Förderer des deutschen Kernforschungsprogramms während des Krieges und gehörte neben Werner Heisenberg zu den Protagonisten des "Uranvereins". Der Peripherie des Uranprojektes sind Rudolf Fleischmann, Willibald Jentschke und Manfred von Ardenne zuzurechnen. Friedrich Hund war zwar nicht in das geheime Forschungsprojekt eingebunden, hatte jedoch als Kollege von Werner Heisenberg und später durch seine wissenschaftshistorischen Arbeiten einen Einblick in die damaligen Geschehnisse und trägt insbesondere durch seine Erinnerungen an die Anfänge der Quantenmechanik und die Angriffe gegen die theoretische Physik im Dritten Reich zum Verständnis der Vorgeschichte des deutschen Uranprojektes bei. Ein Kurz-interview mit Edward Teller, der als ehemaliger Heisenbergschüler während des Krieges am amerikanischen Atombombenprojekt in Los Alamos beteiligt war, ist mit aufgenommen worden, weil Teller einen neuen Aspekt hinsichtlich der Bewertung von Heisenbergs ?Versagen? im "Uranverein" eröffnet.
Auch wenn sich einige der hier befragten Wissenschaftler gerne als Gegner oder sogar Opfer des Nazi-Regimes sehen, so sind sie doch Teil der Täter-, Zu- und Wegschauergeneration. Durch ihre Lehr- und Forschungstätigkeit, insbesondere aber durch ihren vorauseilenden Gehorsam und ihren moralfreien Pragmatismus haben sie ebenso zur Systemstabilisierung beigetragen wie die Funktionseliten aus Justiz, Wirtschaft und Militär. Einer Exkulpation der Wissenschaft für die NS-Zeit kann nur das Wort reden, wer die besondere Verantwortung von Wissenschaftlern für die Folgen ihrer Forschungsarbeiten leugnet. Konnte man zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielleicht noch glauben, daß Wissenschaft, Politik und Moral unabhängig voneinander seien, so ist spätestens seit der Entdeckung der Kernspaltung klar geworden, daß unpolitische und unmoralische Wissenschaft ebenso wie unwissenschaftliche und unmorali-sche Politik die Menschheit in die Katastrophe führen können.
Tatsächlich war Forschung niemals wertfrei, und zu allen Zeiten haben sich Wissenschaftler in den Dienst von Militärs gestellt bzw. wurden ihre Entdeckungen und Erfindungen für militärische Zwecke mißbraucht. Die Traditionsfäden reichen hier von der Kernspaltung, über Fritz Habers Ideen für den Gaskrieg im Ersten Weltkrieg und Antoine Lavoisiers Anstren-gungen zur Verbesserung der Schießpulverproduktion, bis zu Galileo Galileis militärischem Kompaß zurück.
Forschung im Dritten Reich stand immer unter einem ganz besonderen militärischen und ideologischem Verwertungsdruck. Die Fokussierung auf die politischen Umstände darf jedoch nicht zur Marginalisierung der wissenschaftlichen Dimension der damaligen Arbeiten führen. Es ist falsch zu glauben, daß es im Dritten Reich keine erstklassige Forschung gab. Als Gegenbeispiele seien hier nur die Raketenforschung, die Aerodynamik und die Physik der kosmischen Strahlung genannt. Viele Forscher etwa auf dem Gebiet der Raketenforschung oder der biomedizinischen Wissenschaften nahmen jedoch bewußt die Anwendung ver-brecherischer, menschenverachtender Praktiken wie Zwangsarbeit oder Menschenversuche in Kauf oder förderten sie sogar.
Die Bedeutung der kernphysikalischen Forschungen während des Dritten Reiches liegt in der politischen Dimension der Atombombe. Heute weiß man, daß Kernwaffen das politische Weltgefüge über Jahrzehnte maßgeblich geprägt haben und auch auf absehbare Zeit weiter prägen werden. Die Arbeit der deutschen Physiker im "Uranverein" bezieht ihre Brisanz daher aus der Frage, wie die Welt heute aussähe, wenn es den Wissenschaftlern gelungen wäre, für Hitler eine Atombombe zu bauen.
Genauso wenig wie die "Geheimen Forschungsberichte" für sich allein vollständige Abbilder der Wirklichkeit sind, so sind auch Oral History Quellen nur aus ihrem historischen Kontext heraus verwertbar. Die hier befragten Wissenschaftler waren zu den Zeitpunkten der Interviews alle schon über 80 Jahre alt, und "Lebenserinnerungen alter Männer sind keine treue Geschichtsquelle", wie Friedrich Hund zutreffend konstatiert. Die Gespräche sind ex post Projektionen von subjektiv erlebten Wirklichkeiten und damit zwangsläufig ungenau, verzerrt und einseitig. Und doch sind sie mehr als nur Stimmungsbilder alter Physiker. Beim genaueren Zwischen-den-Zeilen-Lesen erweisen sich die Gespräche vielmehr als wissen-schaftshistorische Fundstellen, an denen sich vom Betonten auf das Heruntergespielte, vom Gesagten auf das Verschwiegene schließen läßt.
In den zahlreichen Aufsätzen und Büchern, die über die deutsche Nuklearforschung während des Krieges geschrieben wurden, entsteht immer wieder der Eindruck, als ob es sich bei "den Physikern" in Deutschland um eine homogene Gruppe gehandelt hätte. Aus den Gesprächen wird jedoch klar, daß es zwischen den Forschern zum Teil erhebliche persönliche Spannungen gab. Es wird auch deutlich, daß die Annahme eines komplexen Motivationsnetzes unabdingbare Voraussetzung für ein tieferes Verständnis der Handlungen der beteiligten Wissenschaftler ist. Manche sahen in ihrem Engagement für das Heereswaffenamt eine Chance, ihrem Fachgebiet wieder zu Ansehen zu verhelfen. Wieder andere wollten schlicht ihr Institut durch den Krieg retten. Dem einen ging es um die persönliche Karriere, dem anderen darum, nicht an die Front zu müssen. In vielen Fällen war es jedoch eine Mischung all dieser Motive. Es gab Animositäten zwischen theoretischen und Experimentalphysikern, Generationskonflikte zwischen älteren und jüngeren Wissenschaftlern und Eifersüchteleien um die Nähe zu Koryphäen wie Heisenberg. Diese Uneinigkeit der Forscher trug mit dazu bei, daß es den Deutschen während des Krieges nicht einmal gelungen war, eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion zustande zu bringen, von einer Atombombe ganz zu schweigen.
Neben der Erkundung der persönlichen Trajektorien der beteiligten Wissenschaftler wird auch versucht, die Wissenschaftspolitik des Dritten Reiches zu beleuchten, insbesondere die Vertreibung der jüdischen Physiker und die Angriffe auf Heisenberg von Seiten der Vertreter der sogenannten "Deutschen Physik".
Ein weiterer Fragenkomplex, der in den Gesprächen wiederkehrt, gilt der Aufspürung der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen in den 20er und 30er Jahren. Dabei wird deutlich, welche prägende Bedeutung wissenschaftliche Schulen, wie etwa in Göttingen oder Leipzig, als Konzentrationspunkte und Keimzellen konzeptgebundener Kommunikation auch für russische Physiker in jener Zeit hatten. Abschließend werden die Gesprächspartner um eine Beurteilung des aktuellen Forschungsstandes der modernen Physik gebeten.
Kapstadt, im Juli 2001
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