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Hans Jensen, Physiker und Nobelpreisträger

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 (2020) (2020)

Kurt Scharnberg
Hans Jensen, Physiker und Nobelpreisträger
Opportunist oder Widerständler im Dritten Reich?
266 Seiten, 50 Abb., Gb., 34,80 Euro
ISBN 978-3-86225-123-0
Die erste ausführliche Biografie über den Kernphysiker und Nobelpreisträger.

 

Einleitung

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In Anbetracht des an ihn verliehenen Nobelpreises, mit dem sich neben der Universität Heidelberg auch die Universität Hamburg schmückt, war Johannes „Hans“ Daniel Jensen neben Wolfgang Pauli der erfolgreichste Mitarbeiter von Wilhelm Lenz. Jensen hat in Hamburg studiert, bei Lenz sein Staatsexamen gemacht, promoviert, habilitiert und erhielt schließlich seine Lehrbefugnis als Dozent. Jensen war zu jener Zeit völlig mittellos; seine Eltern verstarben noch während seiner Schulzeit! Aufgrund seiner herausragenden Leistungen setzten sich seine akademischen Lehrer, vor allem Wilhelm Lenz, auf vielfältige Weise erfolgreich für eine Verbesserung seiner wirtschaftlichen Situation ein.

Noch lange nach seiner Wegberufung, 1941 nach Hannover, 1948 nach Heidelberg, stand er in enger Verbindung mit seinem Lehrer Wilhelm Lenz und der Universität Hamburg, deren Honorarprofessor er bis zu seinem Lebensende war. Auch nach seinem Ausscheiden aus Hamburger Diensten hat er die Entwicklung der Physik in Hamburg entscheidend beeinflusst: Es war die freundschaftliche, vertrauensvolle Beziehung zwischen Lenz und Jensen, die die Ruferteilung an Willibald Jentschke, dem Gründer des Deutschen Elektronen-Synchrotrons in Hamburg, möglich machte.

Eine ausführliche Würdigung von Jensens Persönlichkeit und seinem Wirken als Lehrer und Institutsdirektor wurde von den Heidelberger Kollegen Hans-Günter Dosch und Berthold Stech anlässlich des sechshundertjährigen Bestehens der Heidelberger Universität verfasst. Dabei standen naturgemäß die wissenschaftlichen Arbeiten aus seiner Heidelberger Zeit im Vordergrund. Hier liegt die Betonung stärker auf Jensens Hamburger Zeit, dem Verhältnis zwischen Lenz und Jensen und auf seinen von Lenz angeregten wissenschaftlichen Arbeiten. Insbesondere auf jene über Atom- und Festkörperphysik wollen wir hier detaillierter eingehen, da diese Beiträge von Lenz und Jensen zur Behandlung quantenmechanischer Vielteilchensysteme heute vergessen zu sein scheinen, ungerechtfertigterweise, wie wir meinen. Lenz war der Erste, der Vielelektronensysteme (große Atome, Festkörper) mit Hilfe eines Dichtefunktionals beschrieben hat. Diese Idee ist von Jensen über Jahre ausgearbeitet worden.

Mit diesen Arbeiten hat er sich 1936 habilitiert. Aber schon zu jener Zeit verschob sich Jensens Interesse zur Kernphysik: Für das Gespräch mit der Habilitationskommission der Fakultät wie auch für die öffentliche Probevorlesung schlug Jensen nur Themen aus der Kernphysik vor.

Jensens Lebensweg vom Studenten zum Professor fiel in die Zeit der Herrschaft der Nationalsozialisten. Diese hatte profunde Auswirkungen auf die gesamte Universität und auch auf die an ihr tätigen Physiker. Dabei war die Vertreibung jüdischer Mitarbeiter durch Nichtverlängerung ihrer Anstellungsverträge schon im Sommer 1933 nur eine Seite der Veränderung des politischen Umfeldes, in dem Forschung und Lehre stattfanden. Arische Wissenschaftler wurden zur Konformität, zur rückhaltlosen Bejahung des neuen Deutschen Reiches gezwungen, wenn sie die Lehrbefugnis erlangen wollten. Jensen stand vor der Wahl, zu emigrieren oder diese Konformität zu demonstrieren. Er entschied sich, nach Rücksprache mit älteren Kollegen, für Letzteres. Dabei erwies er sich als Meister der Täuschung, was ihm erlaubte, seinen wissenschaftlichen Fähigkeiten entsprechend unbelastet von dem politischen Umfeld eine akademische Laufbahn zu verfolgen und sich gleichzeitig schützend vor Verfolgte des Regimes zu stellen. Mit Wissen und Billigung Heisenbergs informierte er im Sommer 1943 Niels Bohr und dessen Assistenten Christian Møller, sowie eine Gruppe norwegischer Kollegen in Oslo, dass die deutschen Physiker den Bau einer Atombombe nicht verfolgten. Einer der Hörer seines Kolloquiums in Oslo machte sich entgegen Jensens Bitte Notizen, die noch immer im Archiv des MI 6 in London liegen. Ein Physiker, der wegen seiner politischen Überzeugungen Deutschland verlassen musste, der etliche Jahre in sowjetischen Gefängnissen verbrachte, bevor er nach dem Hitler-Stalin-Pakt an die Gestapo überstellt wurde und schließlich von Max von Laue aus einem Gestapo-Gefängnis befreit wurde, sandte Jensen im Zuge von dessen Entnazifizierungsverfahren ein Entlastungsschreiben, in dem er Jensen und Max von Laue bezüglich ihrer Nazi-Gegnerschaft auf eine Stufe stellte.

Die Physikgeschichte während des Dritten Reiches wurde überwiegend von Autoren geschrieben, die selbst die Atmosphäre eines Unterdrückungsregimes nie erlebt hatten. Diesen ist es verständlicherweise unmöglich, sich die Kompromisse zu vergegenwärtigen, zu denen Gegner des nationalsozialistischen Regimes gezwungen waren, um in Deutschland leben und arbeiten zu können. Besonders gravierend ist dies bei dem Historiker Mark Walker, der u. a. die Geschichte der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und der Max-Planck-Gesellschaft dargestellt hat. In seinem Beitrag zum Forschungsprogramm „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozalismus“ mit dem Titel „Eine Waffenschmiede? Kernwaffen- und Reaktorforschung am KWI für Physik“ lautet der letzte Satz:

„Betrachtet man die Geschichte des KWI für Physik über den gesamten Zeitraum des Zweiten Weltkriegs, so zeigt sich, daß Wissenschaftler keine überzeugten Nationalsozialisten oder Kriegsanhänger sein mußten, um an Massenvernichtungswaffen für das ‚Dritte Reich‘‚ zu arbeiten.“

Demnach ist auch Jensen, der für die Dauer des Krieges seine ganze Arbeitskraft als Haustheoretiker in der Gruppe von Paul Harteck in den Dienst des Uranprojekts gestellt hatte, ein Waffenschmied.

Die beiden Arbeitsgebiete von Hartecks Gruppe waren die Isotopentrennung und die Gewinnung von schwerem Wasser als Bremsmittel für Neutronen in einem Kernreaktor. Beides sind auch unter den Gesichtspunkten der Grundlagenforschung für Physiker faszinierende Aufgaben. Gleichzeitig stellt ihre Lösung notwendige Schritte auf dem Weg zur Atombombe dar, aber zuerst einmal führen diese Schritte zu einer vielversprechenden Energiequelle. Trotz aufrichtiger Anstrengungen ist es den deutschen Physikern bis Kriegsende nicht gelungen, die Uranisotope in nennenswertem Umfang zu trennen und genügend schweres Wasser für einen kritischen Reaktor bereitzustellen. Die Gründe für den quälend langsamen Fortschritt bei der Lösung dieser Aufgaben und beim Bau eines Kernreaktors werden hier ausführlich erörtert anhand von hunderten Geheimberichten, die seit dem 15. November 2017 im Archiv des Deutschen Museums in München digital verfügbar sind. Dabei wird auch klar werden, dass den im deutschen Uranprojekt tätigen Physikern die zu überwindenden Schwierigkeiten sehr früh klar wurden. Die Entscheidung für oder gegen den Bau einer Atombombe stellte sich damit gar nicht.

Walker stuft Jensen nicht nur als Mitläufer, sondern als Opportunisten ein, der sich um seiner Karriere und finanzieller Vorteile Willen dem Nazi-Regime rückhaltlos angedient habe. Diese voreingenommene Sichtweise wird hier anhand der Quellen widerlegt. Dazu sind wir glücklicherweise nicht allein auf Jensens Entnazifizierungsakte angewiesen, sondern können auch andere amerikanische Historiker heranziehen, die sich nach Freigabe aller Dokumente über die norwegische Widerstandsgruppe „XU“ durch die norwegische Regierung Anfang der achtziger Jahre die Mühe gemacht haben, mit Mitgliedern des XU zu sprechen. Auch Kollegen, die am Manhattan Project mitgearbeitet hatten, haben sich ganz eindeutig über Jensens kritische Haltung zum nationalsozialistischen Regime geäußert. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Briefwechsel zwischen Jensen und Otto Stern, der Deutschland 1933 verlassen musste, aus den frühen Nachkriegsjahren.

So interessant das Thema „Hitlers Atombombe“ immer noch zu sein scheint, stellt die Arbeit im Uranprojekt nur einen kleinen Teil von Jensens wissenschaftlicher Lebensleistung dar. Seine wichtigsten Beiträge zum Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis stammen aus der Zeit vor und nach dem Krieg. Seine Arbeiten zur Vielteilchenphysik, mit denen er sich habilitiert hat, sind in einer Monographie mit dem Titel „Die Statistische Theorie des Atoms“ von P. Gombás aus dem Jahr 1949 ausführlich gewürdigt worden. Der Name „Jensen“ füllt im Namensverzeichnis dieses Buches eine ganze Spalte. Dennoch sind seine Arbeiten aufgrund neuer Entwicklungen in Vergessenheit geraten. Seine Überlegungen zur Stabilität von Atomkernen, die bedeutsam sind für die Erklärung der Häufigkeit, mit der verschiedene Elemente und deren Isotope in der Natur vorkommen, kulminierten 1963 in der Verleihung des Nobelpreis für die Entwicklung des Schalenmodells der Atomkerne an Hans Jensen und Maria Goeppert-Mayer.

Mit einer verhältnismäßig breiten Darstellung von Jensens wissenschaftlicher Arbeit wird hier versucht, Instituts- und Weltgeschichte mit Wissenschaftsgeschichte zu verbinden. Die Historikerin Sylvia Paletschek, zu deren Forschungsgebieten Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte gehört, stellte fest: „Eine integralere Verbindung von Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte ist nach wie vor ein Desiderat.“ Diesem Wunsch versuchen wir hier nachzukommen. Für den mit der Materie leidlich vertrautem Leser ist es hoffentlich auch von Interesse, Beispiele für die verschlungenen Pfade, auf denen wissenschaftliche Erkenntnis voranschreitet, und die Zufälle, die diesen Fortschritt befördern, kennenzulernen.

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