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Friedrich Ratzel (1844-1904): Naturwissenschaftler, Geograph, Gelehrter

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 (1996) (1996)

Gerhard H. Müller
Friedrich Ratzel (1844-1904): Naturwissenschaftler, Geograph, Gelehrter
Neue Studien zu Leben und Werk und sein Konzept der »Allgemeinen Biogeographie«
194 Seiten, Abb., Pb., 32,80 Euro
ISBN 978-3-928186-10-0
Biographie über den Wegbereiter neuer Diziplinen an der Schnittstelle zwischen Biologie und Geographie.

 

Einleitung

Nachdem die – auch in Prüfungen verwendete – Frage nach Autor und Zeitpunkt der Entstehung des Begriffs »Ökologie« (Ernst Haeckel 1866) leicht beantwortet werden konnte, lag es nahe, eine gleiche Frage für »Biogeographie« zu stellen. Diese konnte nicht beantwortet werden und es gibt bis heute in allen vorliegenden Studien, die sich im weitesten Sinne mit der Geschichte der Biogeographie befassen, keinen Hinweis dazu.

In Gesprächen mit dem 1984 verstorbenen Saarbrücker Geographen Professor Dr. Josef Schmithüsen fiel erstmals der Name Friedrich Ratzel, wohl im Zusammenhang mit dessen 1901 publizierter Studie »Der Lebensraum. Eine biogeographische Studie«. Dieser Hinweis sollte sich als äußerst fruchtbar herausstellen und bildete zugleich den Einstieg in das bisher nur am Rande bekannte Gebiet der Geographiegeschichte.

Schmithüsen darf als einer der geistigen Väter der modernen Biogeographie betrachtet werden, der darüber hinaus in einer Reihe von Arbeiten auch die Geschichte dieser Wissenschaft nachhaltig gefördert hat.

Aus der Schnittstelle zwischen Biologie- und Geographiegeschichte erwuchs damit ein idealer Ansatz für die Beschäftigung mit der Geschichte der Biogeographie, der durch die Person und das wissenschaftliche Werk Ratzels als Zoologe und Geograph bestärkt wurde.

Die Entwicklung der Wissenschaften führte in der Vergangenheit zwangsläufig zu einer Auffächerung, damit auch zu einer teilweisen Entfremdung der Einzeldisziplinen untereinander. Arbeiten zur Geschichte der Naturwissenschaften, speziell auf dem Gebiet der biologischen und geographischen Wissenschaften, wirken einem solchen Trend entgegen. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht nimmt die Biogeographie eine Art Schlüsselstellung ein, denn viele ihrer im Rahmen der Ökosystemforschung gewonnenen Erkenntnisse befruchteten und befruchten Natur- und Geisteswissenschaften in gleichem Maße. Hier ist die Rolle Friedrich Ratzels zu sehen, der nicht nur als großer Anreger der Anthropogeographie, sondern auch als Vermittler zwischen ihr und der biologischen Wissenschaft zu betrachten ist.

Innerhalb eines über mehr als 10 Jahre hinweg kontinuierlich angelegten Archivs zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Geographie wurde seit 1982 im Hinblick auf diese Habilitationsschrift eine umfassende Sammlung von Original- und Sekundärliteratur zur Entwicklung der Biogeographie – speziell des 19. Jahrhunderts – angelegt. Für den als Schwerpunkt zu betrachtenden Anteil der allgemeinen Biogeographie Friedrich Ratzels existiert eine Sammlung von Ratzeliana: Original- und Sekundärliteratur, Korrespondenzen sowie das Manuskript seiner Vorlesung zur Biogeographie aus den Beständen seines Hauptnachlasses in Leipzig, ferner Bestände aus seiner Münchener Zeit.

Dies führte letztlich dazu, daß aus seinen gedruckten Schriften und aus seinen handschriftlichen Nachlaßmaterialien sein – bisher unbekanntes und unberücksichtigtes – ureigenstes Konzept einer zeitgenössischen allgemeinen Biogeographie als Baustein einer noch zu schreibenden Geschichte der Biogeographie herausgearbeitet werden konnte.

Ich konnte somit feststellen, daß im Rahmen der Gesamtentwicklung der Bio- und Geowissenschaften im 19. Jahrhundert einer ihrer essentiellen Zweige, die Erforschung und Begründung der Verteilung von Lebewesen im Raum, und die als gesichert geltende Begründung eines ersten synthetischen und programmatischen Konzeptes durch Friedrich Ratzel, nahezu lückenlos verfolgt und dargestellt werden kann.

Darüber hinaus zeigte sich – auch in Gesprächen und Korrespondenzen – wie wichtig offensichtlich eine weitere Bearbeitung des längere Zeit vernachlässigten Friedrich Ratzel als Vertreter des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist, ein Zeitraum, der in vielfältiger Weise Grundlagen legte für den Anfang des 20. Jahrhunderts. Solche vertieften Studien des gesamten Schrifttums Ratzels wären zu wünschen.

Die im Hauptabschnitt zur Biogeographie Ratzels vorgelegten Ausführungen verstehen sich als Versuch und Beitrag zur Disziplingenese und Problemgeschichte der Biogeographie, in dem Bemühen, »Wissenschaftsgeschichte als zentralen Bereich des historischen Verstehens unserer durch Wissenschaft und Technik geprägten Kultur zu sehen.« Sie begibt sich damit in ein Feld dreier Bereiche, der Disziplingeschichte, der allgemeinen Geschichte und der Wissenschaftsforschung:

»Dabei kann Wissenschaftsgeschichte weder auf Disziplingeschichte verzichten, sondern muß auf sie aufbauen, noch kann sie in allgemeiner oder Sozialgeschichte aufgehen, weil sich die Wissenschaftsentwicklung von anderen Entwicklungen dadurch unterscheidet, daß jede Veränderung mit dem Anspruch der Wohlbegründetheit vertreten und akzeptiert wird; auch kann sie Wissenschaftstheorie oder Wissenschaftssoziologie nicht entbehren, sondern muß umgekehrt diesen Untersuchungsfeldern ihren theoretischen und begrifflichen Rahmen entleihen.«

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